Eigentlich wollte Wolfram Schneider-Lastin während des Corona-Lockdowns die Geschichte seiner süddeutschen Grossväter aufschreiben, um die Erinnerung an schwierige Zeiten zu wahren. Der Text war für Familie und Freunde bestimmt. Doch er öffnete ein «Ventil», wie der Autor und Schauspieler zu Beginn des Buchs «Fragen hätte ich noch – Geschichten von unseren Grosseltern» schreibt.
Immer mehr Leute aus seinem Umfeld erzählten ihm von ihren Grosseltern. Schliesslich kamen 30 Kapitel zusammen. Unter den Verfasserinnen und Verfassern sind bekannte Namen der Literaturszene wie Alex Capusund Zora del Buono oder Schauspieler Hanspeter Müller-Drossaart.
Verfolgte, aber auch Täter
Was sie über ihre Grosseltern berichten, geht oft unter die Haut. Gerade die erste Geschichte des deutschen Historikers und Osteuropaexperten Andreas Kossert. Er erzählt von seiner Grossmutter Else aus dem polnischen Lodz. Nach dem Zweiten Weltkrieg, 1945, wurde sie von sowjetischen Truppen gefangen genommen.
«Was Else im Lager erlebte, behielt sie für sich.» Später fand sie sich in der westdeutschen Provinz wieder, die nie eine neue Heimat werden sollte. Als Else im hohen Alter die Orientierung verlor, lief sie aus dem Altersheim davon, stets Richtung Osten, und glaubte, wieder in Lodz zu leben. «Else war zuhause», schreibt ihr Enkel über die Tage kurz vor ihrem Tod.
In vielen Geschichten geht es um die beiden Weltkriege und die Zeit des Nationalsozialismus. Das ist eindrücklich und holt vermeintlich weit Zurückliegendes wieder ins Bewusstsein. All die Grosseltern, die mit diesen Erinnerungen leben, als Verfolgte, aber auch als Täter. Das schmerzt beim Lesen auf verschiedene Arten, wird fassbar und ist gleichzeitig unvorstellbar. «Ein eisiger Hauch erfüllte den Raum, wenn ich etwas über den Krieg wissen wollte», schreibt Christa Prameshuber.
Auch viele andere schwierige Themen werden aufgearbeitet. Grossmütter, die uneheliche Kinder zur Welt brachten, Frauen, die damals das Schweizer Bürgerrecht verloren, weil sie «Ausländer» heirateten, Männer, die während politischer Unruhen versuchten, unter Lebensgefahr ihre Familie durchzubringen.
Mit unbequemen Fragen von Enkeln
Das Buch ist schlicht gehalten. Keine Bilder, Landkarten oder Stammbäume. Nur Text. Daran ist an sich nichts zu bemängeln. Doch nur wenige Beiträge brechen sprachlich aus einer klassischen Erzählform aus. Hier hätte etwas mehr Vielfalt gutgetan. Gerne hätte man auch mehr Geschichten gelesen, die an anderen Orten als in Europa spielen. Eine der wenigen Ausnahmen: das Kapitel «Niwla» von Waseem Hussain, der einen zu seiner Grossmutter nach Karatschi, heute Pakistan, mitnimmt.
Sehr divers hingegen sind die Gefühlslagen, mit denen die Erinnerungen an die Grosseltern einhergehen. Viele Enkel sind kritisch, haben sich wie auch ihrer Familie unbequeme Fragen gestellt und reflektieren ihre zum Teil ambivalenten Emotionen. Nur in einem Fall wirkt ein Kapitel unangenehm verklärend. In seiner Gesamtheit ist das Buch aber eine würdige Hommage an Menschen, die weit mehr als Grosseltern sind oder waren.
Fragen hätte ich noch
Hg. Wolfram
Schneider-Lastin
256 Seiten
(Rotpunkt 2024)