Geschichte - Was das Leben bereithält
Ein packender Einblick in die deutsche Geschichte: «Klassenbild mit Walter Benjamin» heisst eine Spurensuche des Germanisten Momme Brodersen.
Inhalt
Kulturtipp 22/2012
Rolf Hürzeler
Irreführender Titel hin oder her: Das ist kein Buch über den marxistischen Kunstkritiker und Übersetzer Walter Benjamin, der sich 1940 vor der Auslieferung an die Nazis in Spanien das Leben nahm. Diese «Spurensuche», wie sie der Germanist Momme Brodersen nennt, ist eine kleine Abhandlung der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Der Autor ist den Lebensläufen der Schüler in Benjamins Maturaklasse nachgegangen, die 19...
Irreführender Titel hin oder her: Das ist kein Buch über den marxistischen Kunstkritiker und Übersetzer Walter Benjamin, der sich 1940 vor der Auslieferung an die Nazis in Spanien das Leben nahm. Diese «Spurensuche», wie sie der Germanist Momme Brodersen nennt, ist eine kleine Abhandlung der deutschen Geschichte in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts. Der Autor ist den Lebensläufen der Schüler in Benjamins Maturaklasse nachgegangen, die 1912 in der Kaiser-Friedrich-Schule in Berlin-Charlottenburg ihre «Reife» erlangten. Die Lebensgeschichten belegen, auf welchem Boden der Nationalsozialismus heranwachsen konnte: Verbreiteter Antisemitismus vor dem Ersten Weltkrieg, ein autoritäres Erziehungssystem und Hierarchiegläubigkeit.
Lebensbilanz
Die Lebensbilanz dieser Maturaklasse in Zahlen: 22 junge Männer vor dem Abitur, 12 davon Juden. 4 Juden, Benjamin inklusive, überlebten den Nationalsozialismus nicht. Von den 10 nicht-jüdischen Mitschülern wählten 4 aktive Nazi-Karrieren. Die restlichen Schicksale: Tod im Ersten Weltkrieg, innere Emigration oder fehlende Lebensspuren nach der Schulzeit.
Die Biografien im Einzelnen bergen Überraschungen, wie die Beispiele der zwei Schüler Alfred Faeke und Erich Katz zeigen. Faeke (1893– nach 1956) stammte aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Als Kriegsgegner diente er im Ersten Weltkrieg beim Roten Kreuz. Schliesslich wurde er doch in die Infanterie eingezogen und 1916 in Flandern schwer verwundet. Faeke wählte eine juristische Laufbahn, diese blieb erfolglos bis zur Machtübernahme durch die Nazis. Sie machten das frühe Parteimitglied Faeke immerhin zum Grundbuch- und Nachlassrichter in Spandau – ein typischer Gewinnler des Unrechtregimes. Nach dem Krieg flüchtete er aus der DDR und fand im Westen eine Stelle als Amtsgerichtsrat.
Der Jude Katz (1893– ca. 1938) meldete sich im Ersten Weltkrieg als Freiwilliger zu einem Dragoner-Regiment. 1915 wurde er erstmals verwundet. 1917 kehrte er an die Front zurück, wurde erneut verwundet, aber mit zwei Auszeichnungen und dem Rang eines Offiziersanwärters belohnt. Dann folgte eine steile Karriere als Jurist bei einer Bank und 1933 die Verhaftung wegen eines angeblichen Devisenvergehens. Katz wird zu zehn Jahren Haft verurteilt, die er nicht überlebt.
«Zucht und Ordnung»
Über Walter Benjamin erfahren die Leser nichts Neues. Er stammte aus einer privilegierten Familie, war offenkundig ein sehr guter Schüler, fühlte sich aber an diesem Gymnasium nicht aufgehoben. Er erkannte die Zeichen der Zeit schnell, bereits 1933 flüchtete er nach Paris, dennoch holten ihn sieben Jahre später die Nazi-Schergen ein.
Momme Brodersen hat neben den Biografien die pädagogischen Abgründe recherchiert, die sich an der Kaiser-Friedrich-Schule im wilhelminischen Berlin öffneten: Die wichtigsten erzieherischen Werte waren «Zucht und Ordnung, aber auch Charakter, Sorgfalt, Gewissenhaftigkeit». «Offenheit für Neues, Erfindungsreichtum im Methodischen und Didaktischen» waren beim Lehrpersonal weniger wichtig. Typisch etwa das Beispiel eines schwerhörigen «Hülfslehrers», der «die für einen preussisch-deutschen Beamten jener Zeit ‹rechte› politische Gesinnung» mitbrachte und von «echter Vaterlandsliebe» erfüllt war. An der Schule unterrichtete allerdings auch ein Rabbiner, der eine gewisse Wertschätzung genoss, es aber nie zu einem Professorentitel brachte, weil die Schulbehörde befand, es habe ohnehin zu viele Juden an dieser Schule.
Brauner Nährboden
Diese Mentalität spiegelte sich in einer Schrift von 1912 eines Oberlehrers für Griechisch und Latein wider, der obendrein als liberal galt: «Wir Deutsche stehen auf einem exponierten Posten, wir sind von Feinden umgeben, die uns lieber heute als morgen unserer Macht und Grösse, unseres Ansehens und Wohlstandes berauben …» Das war der Nährboden für die spätere Entwicklung.
So erstaunt es wenig, dass Brodersen auf eine andere Schrift stiess, 12 Jahre später verfasst: Für den ehemaligen Mitschüler Benjamins, Lothar Nerger, waren die Franzosen der rachesinnende «Erzfeind», der «das deutsche Volk als solches zerreiben und ausrotten» wolle. Nerger war übrigens Pastor, der seiner Gemeinde in den 30ern vorbetete «Der Herr sei mit Hitler …»