Belletristik
Julian Barnes: Elizabeth Finch
240 Seiten (Kiepenheuer & Witsch 2022)
Julian Barnes erzählt mit «Elizabeth Finch» zwei sehr unterschiedliche Geschichten in einem Roman. Er liebt diese Technik und hat sie hier einmal mehr überzeugend umgesetzt. Der eine Strang handelt von der Faszination des Protagonisten Neil zur Dozentin seiner Abendklasse, der unnahbaren Elizabeth Finch. Bis zum unvermittelten Tod von Finch ist er so besessen von ihr wie sie vom römischen Kaiser Julian. Damit setzt die zweite Geschichte ein. Sie dreht sich um Kaiser Julian Apostata, der für Finch eine philosophische Schlüsselfigur zum Verständnis des Abendlandes war. Julian wollte das Reich im 4. Jahrhundert vom Christentum zurück zur griechischen Mythologie führen. Der britische Autor Julian Barnes schlägt mit dem Roman geschickt eine Brücke von der Moderne zur Antike.
Zwei junge Männer in bewegten Jahren:
Pippo Pollina: Der Andere
336 Seiten (Kein & Aber 2022)
Sein Name ist so klangvoll wie seine Lieder: Pippo Pollina ist seit Mitte der 1980er-Jahre als Cantautore unterwegs. Von Palermo floh er mit 22 in den Norden, weil er die Dominanz der Mafia nicht mehr aushielt. In der Schweiz fand er eine neue Basis, von wo aus er zu seinen Konzerttouren durch ganz Europa aufbrach. Als Cantautore zwischen Poesie und Politik hat er fast 20 Studioalben produziert. 2018 legte er überraschend sein Lebensjournal «Verse für die Freiheit» vor. Und nun debütiert der 59-Jährige als Romancier. «Der Andere» ist die Geschichte zweier junger Männer, die sich durch die bewegten 80er- und 90er-Jahre kämpfen, der eine in Palermo, der andere in Nürnberg. Irgendwann führt sie ihr Engagement zusammen. Pollina erzählt flott, mit spürbaren Bezügen zur eigenen Biografie sowie Zeit- und Lokalkolorit.
Essays
Elke Heidenreich: Ihr glücklichen Augen
256 Seiten (Hanser 2022)
162 Menschen, 3000 Schafe und 2 Pubs: Auf ihren Reisen um die Welt verschlägt es Autorin Elke Heidenreich auch auf die irische Clare Island, wo sie auf den Spuren der Piratin Granuaile (1530–1603) wandelt. In ihrem mit Bildern angereicherten neuen Band versammelt sie «kurze Geschichten zu weiten Reisen» und erzählt in gewohnt süffiger Art von Menschen und ihren Schicksalen, von Gefühlen und Landschaften fern der deutschen Heimat – von Peking über Kairo bis Zürich, wo sie die Frauenbadi als schönsten Ort erkürt.
Scharfsinnige und kämpferische Denkerin:
Ricarda Huch: Frühling in der Schweiz
144 Seiten (Limmat 2022)
Ricarda Huch (1864–1947) hat Ende des 19. Jahrhunderts und während des Ersten Weltkriegs in Zürich gelebt. Der Band «Frühling in der Schweiz» fasst ihre Reminiszenzen an diese Jahre zusammen. Sie enthalten scharfsinnige Schilderungen des damaligen bürgerlichen Lebens. So berichtet sie vom Singspiel «Dornröschen», das sie für den Hottinger Lesezirkel geschrieben hat. Oder sie erzählt, wie sie sich mit einer Freundin gegen einen Dozenten verschwor, «der ein Gegner des Frauenstudiums war und das auf eine sehr unfeine Art äusserte». Auch über ihre Arbeit als Bibliothekarin schreibt sie: «Mit dem Publikum kam ich kaum in Berührung, die Herren hätten geglaubt, mir etwas Ungebührliches zuzutrauen.» Später gehört Huch zu den angesagten Geistesgrössen in Deutschland und wird eine kämpferische Anti-Nationalsozialistin.
Bildbände
Bettina Giersberg: Die Kunst der Imitation – Glarner Textildruck
132 Seiten (Hier und Jetzt 2022)
Kaum ein Schweizer Haushalt, in dem nicht irgendwo noch ein Glarner Tüechli rumliegt. Einst vielleicht als Halstuch gekauft, wurde es irgendwann zum Schweisstuch für den Sport, oder es landete als Piratenkopftuch in der Verkleidungskiste. Robust ist das Glarner Tüechli auf jeden Fall. Und ein Stück Schweizer Industriegeschichte, vereint sich in ihm doch fast die ganze Geschichte des Glarner Textildrucks. Diese rollt die Historikerin Bettina Giersberg nun in ihrem Bildband «Die Kunst der Imitation» auf. Knackig erzählt sie, wie in Glarus, Ennenda oder Schwanden Stoffmuster aus aller Welt kopiert und dann als Baumwolldrucke wieder exportiert wurden. Da- bei lernt man einiges über traditionelle Muster aus Java oder Pakistan, über Druckverfahren, über das Ende des grossen Booms und Aufträge für Couturiers wie Christian Dior oder Emanuel Ungaro. Doch Bettina Giersbergs Buch lebt vor allem von den wunderbaren, zum Teil doppelseitigen Abbildungen von Stoffen, in deren intensiven Farben und faszinierenden Mustern man sich verliert.
Von Gigers Fantasy und Pop-Art inspiriert
HR Giger by Camille Vivier: Hg. Beda Achermann
256 Seiten (Scheidegger & Spiess 2022)
Die französische Fotografin Camille Vivier erinnert mit diesem aufwendigen Fotoband an den 2014 verstorbenen Künstler HR Giger. Ihre 200 grossformatigen Fotografien vermitteln einen Querschnitt durch sein vielfältiges, mitunter verstörendes Werk zwischen Fantasy und Pop-Art. So zeigt sie auf einem Bild den Skulpturenkopf einer stark geschminkten Frau, der in einem Einmachglas vor sich hindämmert. Inszenierte Bilder von Vivier sind erotisch aufgeladen, etwa mit nackten Modellen, die scheinbar teilnahmslos im Grünen warten. Omnipräsent sind Gigers Skelette, die auf Viviers Fotografien als Memento mori in allen möglichen Varianten erscheinen. Dieser persönlich gehaltene Band belegt, wie sehr sich die Künstlerin von Gigers Gedankenwelt angezogen fühlte, als sie seine Werkstatt und seinen Garten in Zürich-Seebach besuchte.
Comics
José-Luis Munuera: Bartleby, der Schreiber – Eine Geschichte aus der Wall Street
70 Seiten (Splitter 2022)
«Dieser Mann ist ein Rätsel.» Titelheld Bartleby ist ein junger, blasser Mann, der sich in der New Yorker Wall Street bei einer Notariatskanzlei als Kopist verdingt, gewissenhaft und fleissig. Bis er sich verweigert, der Arbeit, dem System, und im Gefängnis landet. Der spanische Zeichner José-Luis Munuera hat sich für «Bartleby, der Schreiber» der gleichnamigen Erzählung von Herman Melville von 1853 angenommen. Obwohl er sich einige künstlerische Freiheiten nimmt, orientiert sich der Comic bei dieser geglückten Literaturadaption stark am Ori- ginal – inklusive des berühmten Satzes: «Ich möchte lieber nicht.» Munuera zeichnet ein New York des 19. Jahrhunderts nach mit architektonisch realistischen Szenerien, die in Braunund Grüntöne getaucht sind (Farben: Kolorist Sergio Sedyas Román). Die Figuren dagegen erscheinen karikiert-grotesk. Sie nehmen dem Ganzen etwas von der Schwere dieser melancholischen Geschichte.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Andreas Gefe, Julian Voloj: In NY
96 Seiten (Edition Moderne 2022)
«Ein Traum. Alles nur ein Traum.» Ein junger namenloser Protagonist begegnet in New York wieder und wieder seiner verstorbenen Freundin. Realität und Illusion vermischen sich. Ein Friedhofbild steht ganz am Anfang und ganz am Schluss des Comics «In NY». Dazwischen bekannte Schauplätze: der Vergnügungspark auf Coney Island, das Met oder der Central Park. Andreas Gefe zeichnet die Geschichte mit Bleistift, die Konturen erscheinen in einem zarten Rot, dazu ein helles Blau für Flächen und Schattierungen. Und er lässt viel Weissraum in seinem atmosphärisch starken Comic. Bei einem Atelieraufenthalt hat er den seit 20 Jahren in New York arbeitenden deutschen Autor und Fotografen Julian Voloj kennengelernt. Voloj hatte eine Geschichte parat, die Gefe als Comic umsetzte: geheimnisvoll, mit einzigartigem Sog. Bis zum traurigen Ende.
Kinderbücher/Jugendbücher
Tschäderibumm – Mundartgedichte für Kinder von 45 Autorinnen und Autoren Hg. Hans ten Doornkaat, illustriert von Elena Knecht
188 Seiten (Der gesunde Menschenversand 2022)
Wie ist es «am Mäntig i de Schuel»? Wie klingt «Angscht»? Wie verliebt man sich in einen Tintenfisch? 45 Schweizer Autorinnen und Autoren von Boni Koller bis Ariane von Graffenried haben neue Gedichte, Värsli, Abzählreime oder Songs für Kinder geschrieben. Und dies in ihrer Mundart. Sie alle finden sich im Band «Tschäderibumm », der ersten Sammlung von Mundartgedichten für Kinder seit den 1970er-Jahren. Initiiert, kuratiert und herausgegeben hat diesen prächtigen Reigen an aktuellen, sprachwitzigen Texten Hans ten Doornkaat, langjähriger Verlagsleiter und Dozent in Sachen Kinderbücher. Der 70-jährige «Kinderbuch- Papst» hat sich für das Buch mit der 27-jährigen Illustratorin Elena Knecht aus Baden zusammengetan. Sie hat die 190 Textbeiträge mit ihrer originellen und witzig-verspielten Bildsprache bereichert. Für Kinder und Erwachsene, Grosis und Göttis.
Auf ins Abenteuer Architektur
Carlo und Renzo Piano, Tommaso Vidus Rosin: Auf der Suche nach Atlantis
Ab 12 J.,160 S. (Midas 2021)
Im Hafen von Genua begann schon manch abenteuerliche Reise – auch die von Elsa und ihrem Gross- vater, dem Architekten Renzo Piano. Gemeinsam stechen sie in See und erkunden die wichtigsten Stationen von Pianos Karriere: vom Centre Pompidou in Paris bis zum Flughafen Kansai bei Osaka. Für sein Buch kombiniert Carlo Piano, Journalist und Sohn des Architekten, fiktive Tagebucheinträge seiner Tochter mit Originalskizzen seines Vaters. Die Illustrationen von Tommaso Vidus Rosin im Stil der 1960er sorgen für eine abenteuerliche Stimmung. Entstanden ist eine süffige Architekturgeschichte für Jugendliche, die zum Nachdenken anregt. Neben Bautechnik und Anekdoten erfahren sie viel über Pianos Sicht auf Themen wie Teamwork oder Zusammenhalt. Wie man die beste Sandburg baut, verrät der Architekt obendrein.
CDs: Sounds/Jazz
Jazz: Esbjörn Svensson
HOME.S (ACT 2022)
e.s.t. war das erfolgreichste Pianotrio der 1990er- und 2000er-Jahre. Die schwedische Band wagte eine Neudefinition der Königsdisziplin im Jazz, indem es den kammermusikalischen Ansatz mit Spielarten von Johann Sebastian Bachs Barockfugen bis zu stampfenden Clubbeats kreuzte. Der kreative Kopf war Pianist Esbjörn Svensson, der auch für instrumentale Originalität sorgte. Svenssons abrupter Tod nach einem Tauchunfall im Sommer 2008 war auch das Ende von e.s.t. Fast 15 Jahre später ist Svensson nun auf einem Soloalbum zu hören. Die Aufnahmen hat seine Witwe im Nachlass entdeckt. Ein Juwel, denn sie zeigen den Pianisten nicht nur auf dem Gipfel seiner Kreativität, sondern dokumentieren seine Arbeitsweise und pianistische Raffinesse. Die neun Tracks changieren zwischen Komposition und Improvisation und sind wenige Wochen vor seinem Tod im Heimstudio entstanden. Ein Muss für alle Svensson-Fans.
Die Fab Four besser denn je
The Beatles Revolver – 2022 Mix 5 CDs
(Universal 2022)
«Eleanor Rigby» von Paul McCartney, lediglich Gesang zu einem Streicheroktett; die prägend gespielte Sitar von George Harrison in «Love You To»; Ringo Starrs fabulöses Schlagzeugspiel in der Ein-Akkord-Komposition «Tomorrow Never Knows» von John Lennon: Dies und vieles mehr zeugt davon, wie sich die experimentierfreudigen Fab Four 1966 mit dem Album «Revolver» auf der Höhe ihrer Studiokunst befanden. Giles Martin, der 1969 geborene Sohn des Beatles-Produzenten George Martin, hat jetzt das Album neu abgemischt. Möglich wurde es dank spezieller Technik, mit der Stimmen und Instrumente ab den Vierspurbändern extrahiert werden können. Besonders empfehlenswert ist von den fünf Formaten der Neuausgabe die Super- Deluxe-Box mit fünf CDs (Stereo, Mono, Sessionaufnahmen, Demos). 56 Jahre nach der Erstveröffentlichung tönen die Beatles besser denn je.
CDs: Klassik
Lucienne Renaudin Vary: Trumpet Concertos
Luzerner Sinfonieorchester (Warner Classics 2022)
Und ab geht die Post! So ungemein frisch und zielstrebig, ja so ausgelassen, dass man Johann Nepomuk Hummels alten Klassiker, sein 1. Trompetenkonzert, kaum wiedererkennt. Die 23-jährige Französin Lucienne Renaudin Vary beflügelt das Luzerner Sinfonieorchester mitsamt Chefdirigent Michael Sanderling – oder umgekehrt. Die Solistin jedenfalls triumphiert mit einem ungemein lyrischen Trompetenton, der feinste Regungen kennt und doch sehr klar fokussiert ist. Die Spannweite des Repertoires ist typisch für die junge Generation der Musikerinnen und Musiker: Die Klassiker (auch Haydns 1. Trom- petenkonzert) werden mustergültig modern gemeistert, Raritäten präsentiert (Johann Baptist Georg Neruda), das 20. Jahrhundert berührt (Alexander Arutjunjan) und schliess- lich eine eigene Improvisation über ein Thema von Joseph Haydn gespielt. Hut ab!
Ein grosses Zeitdokument
Lena Belkina: Passion for Ukraine
(Solo Musica 2022)
Die 35-jährige Ukrainerin Lena Belkina kämpft für ihre Heimat. Die Mezzosopranistin, die 2017 und 2018 als Carmen auf der Bregenzer Seebühne berühmt wurde, politisiert und polemisiert. Ihre Anliegen sind menschlich und gehen weit, ist da doch auch der Wunsch, dass das Konservatorium in Kiew nicht mehr nach Tschaikowsky benannt ist. Dabei war einst alles so menschlich, sang Belkina doch vor dem Krieg noch russische Lieder. Nun aber sind es ukrainische. Zusammen mit der Pianistin Violina Petrychenko gestaltet sie die Waisen vom Mond und Himmel mit bebendem Ausdruck und grossem Atem, schweift schwärmerisch lyrisch durch Frühlingsabende und lässt die verletzte ukrainische Seele schweben. Wenn zum Schluss das «Agnus Dei» aus dem «Requiem für Mariupol» von Illia Razumeiko erklingt, ist diese Aufnahme endgültig zum grossen Zeitdokument geworde.
Gesellschaftsspiele
Sherlock Holmes – Beratender Detektiv: Die Themse-Morde & andere Fälle
Für ein Team ab 14 Jahren (Space Cowboys 2020)
Wer schon immer mal in die Fussstapfen des berühmten Detektivs Sherlock Holmes treten wollte, ist hier genau richtig: Ausgerüstet mit einem Stadtplan und einem Adressverzeichnis von London sowie einer zum Fall passenden Ausgabe der «Times» macht sich das beliebig grosse Team in diesem Detektivspiel gemeinsam auf Spurensuche. Im dazugehörenden Buch sind zehn Krimifälle versammelt, die es im viktorianischen London zu lösen gilt, darunter die Themse-Morde oder der Fluch der Mumie. Als Baker-Street-Spezialeinheit sammelt das Detektivteam Hinweise und Alibis, befragt Informanten wie Gerichtsmediziner und Kriminologen und diskutiert das weitere Vorgehen. Das sorgt pro Fall für einen abendfüllenden Spielespass. Nach der Auflösung lässt sich nachlesen, wie Holmes den Fall angegangen ist. Einziger Wermutstropfen: Sind die zehn Fälle gelöst, hat es sich ausgespielt. Nachfolgefälle sind bisher erst auf Englisch verfügbar.
Mit Bär und Bussard unterwegs
Cascadia – Im Herzen der Natur
Ab 10 Jahren, für 1–4 Personen (Kosmos 2022)
Der Fuchs ist gerne von anderen Tieren umgeben. Der Bussard hingegen duldet keine Artgenossen im Revier. Und die Bären sind höchstens zu zweit unterwegs. Um die Vorlieben dieser Wildtiere muss Bescheid wissen, wer in «Cascadia – Im Herzen der Natur» erfolgreich sein will. Das Familien- Legespiel des US-Amerikaners Randy Flynn ist nach der wilden Grenzregion zwischen Kanada und dem Nordwesten der USA benannt und wurde zum Spiel des Jahres 2022 gekürt. Ziel ist es, innert 20 Zügen ein möglichst reichhaltiges Ökosystem zu erschaffen. In jeder Runde legen die Mitspieler Landschaftsoder Tierplättchen. Je nachdem, wie gross die Wald-, Prärie-, Gebirgs-, Fluss- oder Feuchtgebiete sind und wie viele Füchse, Bussarde, Bären, Lachse oder Hirsche sich in den jeweiligen Biotopen angesiedelt haben, gibt es Punkte. Lasst die Natur aufleben!