Es gibt hier Reihenhäuser mit einem Garten, sogar ziemlich viele. Ich lebe in so einem Haus und muss es also wissen. Auch daran, dass mitten in diesem Garten ein Apfelbaum steht, die Äste umwolkt von Blättern, die als kleine grüne Zettel aberhundertfach in der sommerblauen Luft flattern, ist nichts Zweifelhaftes. Und wer wollte sich darüber aufhalten, dass zwischen den Blättern die Äpfel reifen und mit ihrem Gewicht die Äste nach unten biegen? Jeder kann nach Belieben das Bild weiter ausstaffieren und weiss, welche Requisiten dafür zur Verfügung stehen: Da ringelt sich der Gartenschlauch, dort trocknet die Wäsche an der Leine, unter der Weinrebe stehen Tisch und Stühle.
Aber jetzt in dieses Bild noch ein Nashorn setzen, unter den Apfelbaum, auf den Rasen, auch das weiss jeder, das geht an jeder Wirklichkeit vorbei. Daran muss ich festhalten, unbedingt. In meinem Garten steht kein Nashorn, es sieht nur so aus. Ein Nashorn, das ab und zu einen der Äpfel frisst, die wegen der grossen Hitze und Trockenheit klein und dürr vom Baum fallen. Das Nashorn zerkaut die Äpfel schmatzend in seinem Maul, weiter nimmt es nichts zu sich. Das bisschen Wasser, das in den Äpfeln gespeichert ist, scheint ihm zu genügen. Neben seinem Schmatzen ist manchmal in der Nacht ein Grunzen zu hören. Ein trauriges Grunzen, so kommt es mir jedenfalls vor. Hat das Nashorn in meinem Garten Sehnsucht nach seinen Artgenossen? Ich weiss es nicht und habe auch nicht die Absicht, mich darüber kundig zu machen. Denn daran muss ich festhalten, auch wenn die Hitze mir zuweilen die Gedanken verwirrt, ein Nashorn in meinem Garten, so etwas gibt es nicht. Woher sollte es denn kommen? Aus dem Zoo, der am anderen Ende der Stadt liegt, und wo kein Nashorn vermisst wird? Ist es von Afrika her übers Meer geschwommen? Nein, solche Fragen zielen an der Wirklichkeit vollkommen vorbei, in der dieses Nashorn keinen Platz hat.
Das sieht zum Glück auch mein Nachbar so. Er ruft nicht die Polizei an. Im Garten von meinem Nachbarn steht ein Nashorn. Wer hat Lust, sich mit so einem Satz lächerlich zu machen. Auch sonst ist er vernünftig und zwingt mich nicht dazu, ein Gespräch über die Gefährlichkeit von Nashörnern zu führen, über ihre notorische Aggressivität, die in Afrika jährlich zu so und so vielen Todesopfern führe und dass angesichts dieser Tatsache ein hochvoltig geladener Elektrozaun das wenigste wäre, was ich jetzt unternehmen könnte, um auf die eingetretene Situation angemessen zu reagieren. Nein, mein Nachbar fängt nicht mit Elektrozäunen an, er redet, wie es sich für Nachbarn gehört, übers Wetter. Über diesen unwahrscheinlichen Sommer mit seiner Hitze, seiner Trockenheit und dem verdorrten Rasen.
Ja, diese Hitze ist der Grund, weshalb meine Gartenfeste in diesem Jahr drinnen stattfinden. Die Hitze und nicht das Nashorn, das vom Wohnzimmer zwar zu sehen ist, aber meinen Gästen keinen Sprechanlass bietet. Ja, um Gottes Willen, was will man auch gross über so ein Nashorn sagen? Es hat vier Beine, einen massigen Körper, kleine Ohren, kleine Augen und auf der Nase das Horn, das ihm seinen Namen gab. Das weiss jedes Kind. Und mehr an Wissenswertem kommt nicht mehr dazu, auch wenn das Kind älter wird und es schliesslich ein Erwachsener ist, der hinblickt. Das Nashorn ist noch immer ein Nashorn, das in meinem Garten nichts zu suchen hat.
Von draussen ist das Zerplatzen eines Apfels zu hören. Ich weiss, er zerplatzt zwischen den Kiefern eines Nashorns, das es nicht gibt. So wenig, wie dieses Schmatzen und dieses Grunzen, aus dem ich eine Trauer heraushöre, die aber vielleicht auch nur eine Einbildung ist. Meine Einbildung. Deshalb ist der Nachbar so vernünftig, deshalb reden meine Gäste nicht über das Nashorn, weil sie es alle nicht sehen. Nur ich allein. Ja, ich weiss, auch das ist möglich. Aus dem Garten ist ein fürchterliches, langgezogenes Gekreisch zu hören, dazu ein Stampfen, welches das Haus erzittern lässt.
Die Katze hatte sich, so sehe ich am nächsten Morgen, tödlich verwundet, noch an den Rand des Rasens in ein Gebüsch geschleppt, dort ist sie dann verendet. Ob vom Nashorn aufgespiesst oder zerstampft, das ist am zerfetzten Katzenkörper schwer auszumachen. Der Nachbar steht im Garten und blickt interessiert hinüber. Soll ich zu ihm hin? Soll ich ihm die Katze im Gebüsch zeigen und dann hinübernicken zum Nashorn unter dem Baum und selber anfangen von der notorischen Aggressivität dieser Viecher? Aber was beweist eine zerfetzte Katze. Ist damit ausgeschlossen, dass sie nicht doch noch kommt, die Frage, die ich fürchte? Dass der Nachbar fragt, welches Nashorn denn? Aber wäre, so denke ich jetzt, diese Frage meines Nachbarn ihrerseits ein Beweis dafür, dass er das Nashorn tatsächlich nicht sieht? Oder nicht vielleicht nur Ausdruck seines Bemühens, an der Wirklichkeit festzuhalten, so wie ich das selber auch tue? Es hat keinen Sinn, mit dem Nachbarn zu reden, aber dass die Katze weg muss, das ist sonnenklar.
Ich liege schweissnass in meinem Bett und habe es endlich begriffen. Das Nashorn ist eine Fata Morgana. Herrgott, was hat diese Hitze bloss mit meinem Kopf angerichtet, dass ich erst jetzt auf das Naheliegendste komme? Das Nashorn ist eine optische Täuschung, hervorgerufen durch die Luft, die in diesem Sommer in meinem Garten so heiss ist wie sonst nur in der Wüste. Eine Fata Morgana. Es dauert lange, bis mein Lachkrampf abgeklungen ist.
Ich höre das Knacken von Äpfeln, ein Schmatzen und ein Grunzen. Zweifellos ein glückliches Grunzen. Ich werde schlafen, erschöpft, wie ich bin, kann es nicht anders sein. Ich werde schlafen und träumen. Von einem heftigen Herbstregen mit viel Wind, in dessen Prasseln und Sausen das Nashorn endlich tut, was es tun soll, in dem es sich auflöst und spurlos verschwindet.
Gerhard Meister
Der Autor (*1967) schreibt Theaterstücke, Hörspiele, Gedichte und Spoken-Word-Texte, mit denen er selber auf der Bühne steht. Aufführungen seiner Stücke am Schauspielhaus Zürich, Stadttheater Bern, am Burgtheater Wien und an zahlreichen weiteren Bühnen im In- und Ausland. Er ist Mitglied des Spokenword Ensembles Bern ist überall und bildet mit der Musikerin Anna Trauffer das Duo meistertrauffer. 2016 erschien sein erster Gedichtband «Eine Lichtsekunde über meinem Kopf». Gerhard Meister wuchs im Emmental auf und lebt heute in Zürich.