Das Banale gewinnt in der Bedrohung an Bedeutung. «Ein Kürbis gross wie eine Billardkugel. Grenadier-Äpfel fast reif … Frühkartoffeln eher bescheiden.» Diese Worte notierte der englische Schriftsteller George Orwell (1903–1950) am 3. September 1939 in sein Tagebuch. Am selben Tag schrieb er andernorts: «Seit elf Uhr heute früh sind wir offenbar im Krieg … Die Deutschen haben Danzig eingenommen und greifen den polnischen Korridor von vier Stellungen an …» Diese Notizen sind einem soeben bei Diogenes erschienenen Band über «Kunst und Politik» entnommen.
Er enthält unter dem Titel «Der Bauch des Wals» zwei Essays der beiden Autoren George Orwell und Ian McEwan (75) über die politische Verantwortung von Schriftstellern. Orwells Garten und der deutsche Angriff auf Polen belegen anschaulich den Gegensatz zwischen Alltäglichem und Geopolitischem. Erst angesichts der akuten Bedrohung wird der Gemüsegarten wichtig: Nicht nur, weil dessen Ertrag allenfalls das Überleben in der Not erleichtern könnte.
Er verleiht vielmehr auch Halt in schwierigen Tagen, in denen sich Chaos abzeichnet. Die Schriftsteller McEwan und Orwell illustrieren anhand dieses Beispiels die politische Frage, die sich Künstlern in einer ausserordentlichen Lage stellt. Müssen sie politisch Position beziehen, um sich den Herausforderungen ihrer Zeit zu stellen? Oder gönnen sie ihrer Leserschaft besser eine eigenständige Welt, abgehoben von den Niederungen des politischen Gezänks, auch wenn dieses noch so bedrohliche Formen annimmt?
Ein Schutz vor den Unbilden der Zeit
Um diese Fragen zu beantworten, greift George Orwell auf eine Wal-Metapher zurück, denn die schiere Grösse des Tiers in den Tiefen des Ozeans bietet Schutz vor den Unbilden der Zeit: «Man ist dort in einem dunklen, ausgepolsterten Raum, der genau passt, mit einer Speckschicht zwischen sich und der Aussenwelt.» Ein Rückzug dorthin kam für Orwell angesichts der faschistischen Bedrohung in den 30er-Jahren indes nicht in Frage.
Er zog vielmehr in den Spanischen Bürgerkrieg, um mit den Internationalen Brigaden gegen die Falange zu kämpfen – und kehrte völlig desillusioniert zurück. Nach dieser Erfahrung kommt Orwell zum Schluss, dass das Innere des Wals ein legitimer Fluchtort vor dem Elend dieser Welt ist.
Auf den Wal-Vergleich greift auch der um zwei Generationen jüngere Ian McEwan zurück. Er ist überzeugt, dass der Klimawandel das heutige Leben fundamental bedroht: «Es gibt einen Zeitgeist im Innern des Klimawandels, den wir noch nicht einmal ansatzweise verstehen oder in Worte ausdrücken können.»
Angesichts dessen gebe es keinen Rückzugsort mehr, denn das Innerste des Wals sei nach aussen gekehrt, «Gedärm, Speckschicht und Rippen offen daliegend». Erst in einer letzten gedanklichen Schlaufe räumt McEwan ein, dass Künstlern auch angesichts fundamentaler Veränderungen die Freiheit zusteht, «über die Liebe, die Kindheit oder Frösche» zu schreiben. Zumal offenkundig politische Romane selten gute Literatur seien. Dabei verschweigt McEwan, dass gerade er vor 15 Jahren mit «Solar» eine der besten Geschichten des Genres verfasst hat. Ian McEwan und George Orwell – in diesem kleinen Band ziehen zwei literarische Grössen unter unterschiedlichen geschichtlichen Voraussetzungen eine ähnliche Bilanz.
Buch
George Orwell,
Ian McEwan
Der Bauch des Wals.
Zwei Essays über
Kunst und Politik 129 Seiten (Diogenes 2023)
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