Wer beim Begriff «Ausweichspielstätte» an eine raue Halle in der Vorstadt denkt und an tiefe Wasserlachen auf dem Vorplatz des Theaters, ist ein erfahrener Opern- und Konzertgänger – und ein treuer. Denn schwer ist es, die Stammkundschaft bei der Renovation einer Oper für ein oder gar zwei Jahre an einen unbekannten Ort zu locken. Zu vertraut ist das alte Haus, zu gewohnt der Zugang, zu lieb das Restaurant ums Eck.
Mailand hatte sich etwa für die Zeit der Scala-Renovation 2002 bis 2004 ein prächtiges Theater gebaut; doch das Arcimboldi lag fast näher bei Monza als am Mailänder Dom. Luzern wich 1997 anlässlich des KKL-Baus auf eine Stahlhalle in Emmenbrücke aus. Kaum war dort der letzte Ton verhallt, wollte man stracks zurück ins Zentrum.
In der Schweiz werden zurzeit mehrere Ausweichquartiere gebraucht: Das Konzert Theater Bern hat sich auf dem zentralen Waisenhausplatz den Kubus gebaut – und ihm ab 19. März einen Spielplan auf den Leib geschneidert. Allerdings braucht es ihn nur bis Oktober. Das Konstrukt kostet rund 1,8 Millionen Franken und bietet Platz für 480 Zuschauer. Vorgesehen sind rund 100 Vorstellungen, Konzerte und sonstige Veranstaltungen.
Neues Publikum
Da das Stadtcasino Basel renoviert wird und der Musiksaal drei Jahre lang geschlossen ist, spielt das Basler Sinfonieorchester in der kommenden Saison an 15 Orten – hauptsächlich im Münster, im Theater und im Musical-Theater.
Die Stadt Zürich muss die Renovation der Tonhalle noch mit einer Abstimmung beschliessen. Dann ginge es ab Herbst 2017 ins angesagte «Züri-West», in die bereits bestehende Maag-Halle. Chance und Risiko, denn ein neues Publikum wohnt zu Tausenden vor der Tür. Von Zollikon aus gesehen ist das aber dunkle Vorstadt.
Kein Wunder, hat sich die Opéra de Genève viel überlegt, um die zweieinhalb Jahre dauernde Renovation des Grand Théâtre ohne Verlust seiner Klassikfreunde und ohne Schaden am Repertoire zu überstehen. Man kennt seine Pappenheimer: Die Autofahrer werden liebevoll darauf hingewiesen, dass die Parkhäuser rund um die Avenue de France 40 informiert sind und bis nach Opernschluss offen haben. Wer so lange auf sein Haupthaus verzichten muss, will etwas Rechtes, et voilà! Genf baute nichts weniger als die Opéra des Nations und lehrt uns einmal mehr: Bescheidenheit ist etwas für Deutschschweizer.
Ruinierte Highheels
Die Idee zum Haus beziehungsweise das Gerüst kam vom grossen Bruder aus Paris: Dort kaufte man die mobile Ausweichspielstätte der Comédie Française. Allerdings hat man das schmucke Holztheater um 400 Plätze und einen Orchestergraben erweitert. Jetzt hat es Platz für 1120 Leute – nur 360 weniger als das Grand Théâtre und gleich viel wie das Opernhaus Zürich. Das hat seinen Preis. Doch typisch Opernfreunde: Zwei Drittel der 11,5 Millionen Franken, welche die Opéra des Nations kostet, wurden von privaten Geldgebern übernommen – und diese wollen auch den Rest auftreiben. Die 64 Millionen für die Renovation des Haupthauses bezahlt dafür die Stadt Genf.
Im Nordosten der Stadt – ganze sechs Tram-Minuten vom Bahnhof entfernt – hat man den Platz für die Ausweichspielstätte gefunden. Bis 2018 ist allerdings alles abzubauen und zu rezyklieren.
Bei aller Zentrumsnähe: Wer an der Haltestelle «Sismondi» aus dem 15er-Tram steigt, ist eben doch in der Vorstadt, sieht aber keine 50 Meter entfernt ein Riesenschild mit der Aufschrift «Opéra». Gerettet! Fast. Noch ruinieren sich die Damen beim Gang über den Vorplatz ihre Designer-Highheels. Einerlei: Ausweichtheater relativieren den Opern-Dresscode, hier kann man kommen, wie man will, auch das schreckt gewisse Pappenheimer ab.
Drinnen im Saal riecht es nach frischem Holz, denn aus Holz ist hier fast alles – sogar die WC-Wände. Das Wichtigste: Die Akustik ist ideal, für Stimmen geradezu prächtig. Die Sicht ist von bequemen Plätzen aus gut.
Von Klassik zu Hip-Hop
Dank der Ausweichspielstätte muss das Programm nur leicht angepasst werden. Die Eröffnung mit Georg Friedrich Händels «Alcina» war spektakulär – und passend für den Neubau, der historischen Theaterhäusern des 16. und 17. Jahrhunderts nachempfunden ist. Im April wagt man mit Charles Gounods «Le Médecin malgré lui» eine Rarität. Das zweimal gespielte Hip-Hop-Spektakel «Street Dance Club» soll ein anderes Publikum in den Saal locken. Frei nach dem Slogan «Aus der Region, für die Region» heisst es dann: «Aus der Vorstadt, für die Vorstadt».
Aufführungen
Charles Gounod
«Le Médecin malgré lui»
Sa, 16.4., 19.30 Opéra des Nations Genf (letzte Aufführung)
Street Dance Club
So, 24.4.–Mi, 27.4.
Opéra des Nations Genf
Weitere Infos unter:
www.geneveopera.ch