Neue Lust am Zwiegespräch
Die Lyrik ist mit allerlei unguten Vorstellungen behaftet. Als verstaubt, irrelevant und unzugänglich ist sie verschrien. Björn Hayer kennt diese Vorurteile und entkräftet sie mit handfesten Argumenten und anschaulichen Beispielen. So zeigt er auf, dass die «neuen Schöpfer», also die Lyriker der letzten zehn Jahre, alle grossen gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit anpacken. Klimawandel und Anthropozän, Frauenbild und Diversität, Migration und Kolonialismus: All das wird von der jüngeren Dichtergeneration verhandelt. Dabei vermischen sich die poetischen mit theoretischen und fachsprachlichen Zugängen.
Doch die Folgerung, dass die zeitgenössische Lyrik nur noch eine progressive Agenda verfolge, wäre ein Fehlschluss. Denn bei allem Engagement kommen traditionellere und formale Aspekten der Poesie nicht zu kurz.
Hayer attestiert der Gegenwartslyrik den Mut, etwa Fragen des Glaubens und der Transzendenz in aufrichtiger, ironiefreier Weise anzusprechen. Und er stellt eine Wiederentdeckung des lyrischen Ich fest, das in der Postmoderne einen schweren Stand hatte. Und nicht zuletzt beobachtet er eine neue Lust am Zwiegespräch der Dichter mit den Klassikern. Etablierte lyrische Formen wie das Sonett würden in kreativer Weise weiterentwickelt und für die Gegenwart fruchtbar gemacht.
Der 1987 geborene Hayer, der Privatdozent für Germanistik, Kritiker und selber Lyriker ist, nähert sich der Dichtung einerseits mit einer intellektuellen und analytischen Haltung, andererseits scheut er es nicht, sich emotional ansprechen und begeistern zu lassen. Dieser zweifache Zugang ist, wie er zugibt, nie spannungsfrei, dafür aber doppelt produktiv.
Björn Hayer
Die neuen Schöpfer – Texte zur zeitgenössischen Lyrik
220 Seiten
(Gans 2024)
Gesalzenes aus dem Urmeer der Poesie
Vom Alter her wird man den 70-jährigen Schaffhauser Dichter und Übersetzer Ralph Dutli, der nach Heidelberg aus- gewandert ist, nicht zum Nachwuchs zählen dürfen. Aber in Sachen Spielfreude, Forschungsdrang und Performance auf der Bühne braucht er sich vor den Jungen nicht zu verstecken.
Dutli ist ein Sprachmusiker, der sich zunächst in unbefangener Experimentierlust von den Reimen, Assonanzen und Repetitionen treiben zu lassen scheint. «salb mich salz mich / halb mich, halb dich», so fleht das lyrische Ich in einem Gedicht mit dem Titel «Liebesbeschwörung».
Doch Dutlis hintersinnige Gedichtzyklen fussen auf Recherche und Reflexion. So ist sein Zyklus «Salz zu Salz» dieser unscheinbaren Substanz gewidmet, die offenbar unvergänglich ist und deswegen in den Kompetenzbereich des Dichters fällt. «Poeten sind Salz- sieder», die das Urmeer der Poesie verdunsten lassen, bis das «weisse Gold der Erinnerung» gewonnen ist. Der Band «Alba» versammelt Dutlis lyrisches Schaffen der letzten 15 Jahre.
Ralph Dutli
Alba – Gedichte
200 Seiten
(Wallstein 2024)
Aus jedem Gedicht entsteht eine Schwalbe
Er war einer der Pioniere der «Neuen Subjektivität», einer Dichtkunst, die sich von der theorielastigen politischen Lyrik der 68er abwandte. Nach Jahren in der Westberliner Literatenszene zog sich Jürgen Theobaldy in die Schweiz zurück. In Bern arbeitete er als Parlamentsschreiber. Ein produktiver Lyriker blieb er gleichwohl. Eine Auswahl von Theobaldys Lyrik versammelt zu seinem 80. Geburtstag der Band «Nun wird es hell und du gehst raus».
Sie beginnt beim rotzigen Ton des Frühwerks, beeinflusst von der US-Beat-Lyrik. Und sie zeigt, wie der Dichter sein Formenspektrum weiterentwickelte und sich etwa von japanischer Literatur inspirieren liess. Doch stets bleibt Theobaldys lyrische Stimme subjektiv und dem Fassbaren verpflichtet: «Aus jedem Gedicht kannst du / eine Schwalbe machen. // Du musst es aber richtig falten.»
Jürgen Theobaldy
Nun wird es hell und du gehst raus – Ausgewählte Gedichte
296 Seiten
(Wallstein 2024)
Poetische Einblicke in die Philippinen
2025 sind die Philippinen zu Gast an der Frankfurter Buchmesse. Die Schweizer Autorin Annette Hug legt nun den ersten vom philippinischen Tagalog ins Deutsche übersetzten Gedichtband vor. Er versammelt Texte der 1967 in Manila geborenen Luna Sicat Cleto aus 30 Jahren. Die Lyrikerin verhandelt in ihrem Werk die prägenden Konflikte ihres Landes.
So zollt sie etwa dem Dichter Eman Tribut, der während der Militärdiktatur ermordet wurde: «In deinen Gedichten / führst du mich an einen Strand, der voll ist / von Muschelschalen, nicht nur das Meer murmelt, / in ihnen höre ich auch / die Klage des Menschenmeers».
Sicat Cletos Lyrik ist dialogisch und alltagssprachlich, wobei kunstvolle Formen und Formulierungen den Stil kontrastieren. Die Herausforderungen beim Übersetzen aus dem Tagalog, einer Sprache, die von Gleichklängen und Wiederholungen geprägt ist, beschreibt Annette Hug in einem Nachwort.
Luna Sicat Cleto
Offenes Meer
Aus dem Tagalog von Annette Hug
96 Seiten
(Edition Tincatinca 2024)
Gedichte, die Raum lassen
Seit rund 30 Jahren ist Urs Engeler als Verleger im Einsatz für Literatur, die kompromisslos dem künstlerischen Anspruch verpflichtet ist. Ohne Marketing und Klappentexte vertraut er darauf, dass gute Kunst ihr Publikum findet. Seine eigene Summe als Dichter legt er nun in seiner Buchreihe «Das Versteck» vor. Schnörkellos und bescheiden gibt sich sein Band «nicht nichts». Die Gedichte kommen meist ohne Titel aus.
Eines ist mit «…» überschrieben. Eine Leerstelle? Oder schlicht drei Punkte «und weitere Punkte / was dir genügend Raum gibt // zu sehen». Der Grossteil der Seite bleibt leer, oder präziser: «alles ist weiss / so weiss». Das ist eine Einladung, nicht nur das Ausgefüllte, Gedruckte zu beachten, sondern auch das, worin es eingebettet ist.
Es bleibt viel Raum für die Perspektive des Lesers in diesem Gedichtband, der voller zarter, anregender Reflexionen über die Sprache, die Welt und das Verstehen ist.
Urs Engeler
nicht nichts – Gedichte 1984–2024
84 Seiten
(Das Versteck 2024)