Dichtung in finsteren Zeiten
Yevgeniy Breyger hatte gerade mit Sorgfalt seinen Gedichtband fertiggestellt, als am 24. Februar 2022 Russland die Ukraine überfiel. Darin stand «barocke sprache / fern von alltag, handwerklich meisterklasse», aber natürlich kein Wort zum Krieg. Unmöglich konnte Breyger, der in Deutschland lebt, aber aus Charkiw stammt und eine ukrainische und jüdische Familiengeschichte hat, das Buch so in Druck geben.
Er zog es zurück und setzte neu an. Zunächst rekapituliert der 33-Jährige die Geschichte seiner Vorfahren, die von den Nazis verfolgt wurden, und beobachtet mit Entsetzen, wie sie sich wiederholt. In atemlosen Schwällen arbeitet er sich an den deutschen «Friedensengeln» ab, die keine Haltung gegenüber Russland zeigen, und reflektiert mit Scham darüber, dass seine zwei Sprachen die Sprachen der Unterdrücker seiner Angehörigen sind. Durch seine finsteren Analysen des Zeitgeschehens findet er im Lauf seines bewegenden Gedichtbands schrittweise zurück zu seiner gewohnten handwerklichen Meisterklasse.
Yevgeniy Breyger
Frieden ohne Krieg
80 Seiten (Kookbooks 2023)
Stimmungsbilder aus dem Maggiatal
Zu grösserer Bekanntheit kam der Tessiner Schriftsteller Plinio Martini (1923–1979) erst in seinem letzten Lebensjahrzent. Mit seinen zwei Romanen wurde Martini zum literarischen Botschafter seines Dorfs Cavergno zuhinterst im Maggiatal. Dort war er in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen und hatte ein ganzes Leben verbracht. Begonnen hatte Martini indessen als Lyriker.
Rechtzeitig zu seinem 100. Geburtstag liegt nun erstmals eine Auswahlausgabe seiner Gedichte mit deutschen Übersetzungen von Christoph Ferber vor. Feine Skizzen des einfachen Dorflebens und besonnene Blicke in die Natur und Landschaft prägen die Auswahl. Oft ist der Wechsel der Jahreszeiten präsent, der dem Leben der Menschen Struktur und Gestimmtheit gibt:
«So gehst du vorüber, Herbst, und sagst / mit dem Frühlingsversprechen uns Lebewohl». Martini blendet die Enge und das Elend auf dem Dorf nicht aus. Doch es überwiegt in seinen klangvollen Versen das Lob und die Feier der schlichten Schönheit des rustikalen Lebens.
Plinio Martini
Und in jeder Ritze schläft eine Eidechse
Übersetzt von Christoph Ferber 144 S. (Caracol 2023)
Von Gwaggli, Gwaaggi und Göiggel
Der Aargauer Autor Andreas Neeser hat ein feines Sensorium für Winde, verhangene Himmel und knirschende Schneedecken. In seinen Gedichten dient ihm die Erfahrung des Wetters auch als Folie für ein inneres Geschehen – wie eine Aufhellung des Gemüts oder eine Verkühlung des Herzens. Eine heimliche Hauptrolle spielt ausserdem die Sprache, insbesondere die Mundart, deren sinnliches Potenzial Neeser lustvoll demonstriert. Er rieche beim Reden «de Chratte / und d Huurd mit de Chüttene», und so nehme sich die Erstsprache immer grösseren Raum. In seinem Gedicht «Alle meine Namen» hat wohl so manches Dialektschimpfwort seinen ersten Auftritt im Rahmen eines Lyrikbands: «Gwaggli, Gwaaggi, Göiggel / Pinggel, Praschti, Pääggi / Rätschi, Roozi, Ribel / Lappi, Löffel, Lööli / Muuli, Motzi, Muuggi / Sürmel, Söili, Süchel / Tüppel, Trampli, Tubel / Chnoorzi, Chnuuschti, Chääri.»
Andreas Neeser
Nachts wird mir wetter
80 Seiten (Haymon 2023)
Meditationen mit sanftem Prinzip
Alle paar Jahre publiziert Thilo Krause einen Gedichtband von grosser sprachlicher Sorgfalt, und dies neben einem Brotberuf beim Zürcher Elektrizitätswerk. Seine Verse folgen nicht einer festen Form, sondern dem sanften Prinzip der klanglichen und rhythmischen Stimmigkeit. Im Band «Dass uns findet, wer will» wendet er sich mit Gespür für sprechende Details seinen Erinnerungen zu. Zunächst an den Grossvater, der im Krieg ein Bein verlor und sich widerwillig mit dem DDR-Regime arrangierte.
Dann an den Vater, der in liebevollen Vignetten als Leser, Arbeiter oder älterer Herr porträtiert wird, der sich «Bruchstücke / höherer Logik / auf Kontoauszüge / bleichende Kassenzettel» notiert. In der Gegenwart treten schliesslich immer wieder die Kinder auf, im väterlichen Arm schlafend oder mit glänzenden Augen Eis schleckend. So ist in Krauses Meditationen auch die Zukunft aufgehoben.
Thilo Krause
Dass uns findet, wer will
136 Seiten (Hanser 2023)
Das passende Gedicht für jede Lebenslage
Als die Gedichtanthologie «Der ewige Brunnen» 1955 erstmals erschien, überraschte sie mit einer neuen Ordnung. Nicht chronologisch, sondern nach Lebenssituationen waren die Gedichte geordnet. Wie eine Hausapotheke sollte sie in jeder Stube stehen und etwa zu Fragen der Liebe, Sterblichkeit oder Einsamkeit das passende Gedicht bereithalten.
Mit einigen Anpassungen wurde diese Ordnung in der Neuausgabe beibehalten. Ausgemistet wurde der Überhang von Lyrik aus dem 19. Jahrhundert, aufgenommen dafür Aktuelleres, zum Beispiel ein wunderbar freches feministisches Gedicht von Ann Cotton: «In des Landgerichtes Fotze / geh ich als ein blasser Traum, / Frau ist alles, was ich kotze, / lauter Wahrheit dieser Raum.» Ausserdem wurde der Lyrikbegriff um musikalische Lyrics erweitert, sodass in dem Band etwa auch ein Songtext von Udo Lindenberg zu finden ist – im Kapitel zur Jugend.
Der ewige Brunnen – Deutsche Gedichte
Hg. Dirk von Petersdorff
1168 Seiten (C. H. Beck 2023)
Queere Poesie für alle Geschlechter
Bis vor ein paar Jahren gab es die Londoner Musikerin und Dichterin Kate Tempest. Dann outete sie sich als nichtbinär und verkürzte ihren Namen auf Kae. Der Gedichtband «Teilbar durch sich selbst und eins» gibt Einblicke in die Gefühle und Entwicklungen, die hinter dieser Entscheidung stehen. Zerrissen zwischen dem Wunsch nach gesellschaftlicher Akzeptanz und der Sehnsucht, die eigene Identität zu entfalten und Bedürfnisse auszuleben, verleugnete sie sich und entwickelte Hassgefühle gegen ihren Körper.
Heute, 37-jährig, schreibt sich Tempest nicht nur die schlechten Gefühle und die Selbstzweifel vom Leib. Die Gedichte sind auch Aufrufe der Ermutigung, sowohl an das eigene Selbst wie an die Gleichgesinnten.
Hoffnungsvoll skizzieren sie eine Gesellschaft, in der alle unverstellt und natürlich sich selbst sein dürfen. Doch die queere Seele bleibt voller wunder Kanten und zerrissener Ecken, und die Pride, der selbstbewusste Stolz auf die queere Identität, ist nicht leicht zu wahren. Kae Tempest ist heute zwar mehr «proud» als früher, «aber weniger proud, als ich mag / auf die schöne Sache, / die wir schaffen, wenn wir es schaffen.»
Kae Tempest
Teilbar durch sich selbst und eins Übersetzt von Rike Scheffler
128 Seiten (Suhrkamp 2023)