Grenzen sind so absurd wie faszinierend: Die Sau hört bekanntlicherweise genau dort auf, wo die Wurst anfängt, der Himmel fängt exakt dort an, wo unsere Haut aufhört, und ein Land geht mehr oder weniger bis dorthin, wo ein anderes Land beginnt. So kann man sich zum Glück an jedem Grenzübergang entscheiden, ob man sich zu den Pragmatikern oder zu den Romantikern zählen will: Denn entweder hört hier die Schweiz auf, oder die Welt fängt hier an. Wobei, ganz so einfach ist es ja nicht: Obwohl man bei der Physik und bei der Chemie von den exakten Wissenschaften spricht, ist es ja eine Tatsache, dass, rein physikalisch und chemisch betrachtet, jede Grenze zwischen zwei Dingen unscharf, verschwommen und also fliessend ist.
In Basel zum Beispiel gibt es den Margarethenhügel. Das ist ein kleiner, grüner Hügel zwischen dem Gundeli und Binningen. Er steht am Fusse des Quartiers Bruderholz, oben thront die Kirche St. Margarethen, und daneben steht ein hübscher Bauernhof mit sehr zugänglichen Kühen, denen man als Passant auf einem etwaigen Spaziergang über den Hügel kurz «Guten Tag» wünschen kann. Der Margarethenhügel steht, theoretisch, auf basellandschaftlichem Hoheitsgebiet, ist aber seit etwas mehr als 125 Jahren im Eigentum des Kantons Basel-Stadt. Neben dem Margarethenhügel, etwas versteckt im Wald, steht ein Gebäude, das heute als Kindergarten und Kindertagesstätte genutzt wird. Wirklich spannend ist nun: Die Kantonsgrenze zwischen Basel-Stadt und Baselland verläuft exakt durch dieses Chindsgi-Gebäude. Der nördliche Teil des Kindergartens ist Basel-Stadt, der südliche Teil ist Baselland. Das heisst für die Kindergartenkinder also: Jeder Gang aufs WC ist für sie eine kantonsübergreifende Angelegenheit. Der Bäbi-Egge wird von der Stadt gesteuert, für den Morgenkreis ist Liestal zuständig. Kurz: Die Goofen sind noch nicht mal in der Schule und schon Grenzgänger!
Die Corona-Pandemie machte die Sache nun noch spannender: Im Frühjahr 2020 war es ja der Kanton Baselland, der noch eine Woche vor den bundesrätlichen Massnahmen den Notstand ausrief und den teilweisen Lockdown verhängte. Für den Kindergarten und die Kindertagesstätte hatte das die wunderbar lustige Folge, dass die einzelnen Zimmer mit den jeweiligen Gruppen also theoretisch eine Woche lang ganz unterschiedlichen Regimen unterlagen. Anders gesagt: Als bei den «Eichhörnli» noch alles normal war, herrschte zwei Meter weiter bei den «Müslis» bereits der Notstand. Maskenpflicht im Süden, Schlendrian im Norden.
Nun verläuft die Kantonsgrenze auch über den Margarethenhügel. Und dort, am Fusse des Hügels, unterhalb des Bauernhofes, spielt sich traditionsgemäss, Jahr für Jahr, seit Urzeiten rechtzeitig auf den Dezember und also den Advent hin, dasselbe schöne Schauspiel ab: Der Bauer des Bauernhofs baut eine Mauer. Es ist nicht eine Mauer, die die Grenze zwischen den zwei Kantonen markieren soll, sondern es ist eine Mauer aus Strohballen, die am unteren Ende des Hügels montiert wird, um die schlittelnden Kinder davor zu bewahren, in den baselstädti-schen Durchgangsverkehr auf der Margarethenstrasse hineinzubrausen. Der Margarethenhügel ist schliesslich nicht nur Grenzgebiet, er ist auch der bekannteste Schlittelhügel der Stadt: Kein Basler und keine Baslerin, die ihre Kindheit in der Stadt verbracht hat, war nicht schon als Binggis schlitteln an diesem in seiner Weichheit appenzellesk anmutenden Hügelein.
Nun ist es leider so, dass es in der Stadt Basel im Allgemeinen, und am Margarethenhügel im Speziellen, seit Jahren nicht mehr genügend Schnee gegeben hat, um am alteingesessenen Margarethenhügel auf vernünftige Art dem Schlitteln zu frönen. Ich kann mich nicht an das letzte Mal erinnern, als genug Schnee lag. Und ich befürchte, dass sich das so bald nicht mehr ändern wird. Und trotzdem baut der Margarethenhügel-Bauer wacker jedes Jahr aufs Neue zum 1. Dezember hin seinen Strohballen-Wall. Und jedes Mal, wenn die Wand wieder steht und das Thermometer irgendeinen Wert zwischen 5 und 20 Grad angibt, schmilzt mein Herz ein klein wenig hinfort. Und trotzdem finde ich das eine unglaublich wunderbare Sache: Obwohl die Chance auf Schneefall und Schlittelplausch gleich null und die Temperatur alles andere als gleich null ist, wird die Stroh-Mauer jedes Jahr errichtet. Schneegrenze hin, Kantonsgrenze her. Dieser unverbesserliche Optimismus, der Stroh gewordene Idealismus eines um die Sicherheit der hypothetisch rodelnden Kinder besorgten Kleinbauern ist das, was mir auch heuer wieder den nötigen letzten Schub verleiht, mich, trotz Pandemie, Adventsverkauf und geschlossener Beizen, ans rettende Ufer des Neujahrs zu katapultieren. Dieser Strohballen-Limes ist für mich, und für das gesamte Quartier, längst mehr als lediglich ein Mäuerchen: Es ist ein Mahnmal für die Unverbesserlichkeit, ein menschelndes Bauwerk gegen die Logik. Man müsste in Zukunft den Tag, an dem dieses Strohballen-Mäuerlein in die Wiese gewuchtet wird, als Feiertag in den Schulkalender schreiben und zusammenkommen, um den unverrückbaren Glauben an das Gute gemeinsam zu feiern.
Und gerade jetzt, als ich diese Worte schreibe, schneit es. Ob der Schnee länger halten wird als zehn Minuten? Man weiss es nicht. Denn die Schneegrenze liegt schliesslich auch in der Kompetenz der Kantone. Wenn Liestal verfügt, dass es im Baselland schneit, dann hat das die baselstädtische Wiese nicht zu kümmern. Notstand hin, Eichhörnli her.
Gabriel Vetter
Der Schriftsteller und Kabarettist wurde 1983 in Schaffhausen geboren. 2004 gewann er die deutschsprachigen Poetry-Slam-Meisterschaften und wurde 2006 für sein Solo-Bühnenprogramm «Tourette de Suisse» mit dem Salzburger Stier ausgezeichnet. Auf Radio SRF 1 ist er in der Satire-Sendung «Vetters Töne» zu hören. Zudem ist er Teil der SRF-Late-Night-Show «Deville» und ist zurzeit in der vierteiligen SRF-Krimiparodie «Advent, Advent» als Polizist zu sehen. Der Kabarettist, Kolumnist, Theaterautor und Slam Poet lebt mit seiner Familie in Basel.