Ein Mann kehrt zurück in das Dorf seiner Kindheit. Vor 40 Jahren verliess er den Ort in Süddeutschland mit dem Namen Heiligsheim. Der Jugendliche landete in Berlin, war Bar-Betreiber, drogensüchtig. Jetzt sieht er anders aus, trägt einen neuen Namen. Nicht einmal seine alte Mutter scheint ihn wiederzuerkennen.
Ludwig Dragomir, wie er sich jetzt nennt, hiess einst Coelestin, der Himmlische. Er erinnert sich an all das Unheil, das ihm und anderen widerfahren war, und zürnt in alttestamentarischem Ton. Die Religion, die katholische Kirche, ihre Repräsentanten: Lange hatte er sie «als einen Zufluchtsort empfunden, eine Bleibe ausserhalb der Dunkelheit, erfüllt vom magischen Zauber des Tabernakels und der Unbeirrbarkeit des Ewigen Lichts». Bis er begriff, «dass der Priester mit dem Talar auch sein Kirchengesicht ablegte». Erinnerungen an die Schrecken kommen hoch: «Ich wusste, dass, wenn es dunkel wurde, der Teufel kam und kleine Kinder frass. Nichts Besonderes in Heiligsheim.»
Was war geschehen, damals, vor Jahrzehnten? Die ehrenwerten Bürger des Dorfes machten sich schuldig, weil sie sich an den Kindern vergingen. Um sie nach den Schandtaten zum Schweigen zu bringen, wurden sie ertränkt oder überfahren. Immer nur Stille: «Alle wissen alles, aber das bleibt geheim. So ist das hier.» – «Wir sind in Heiligsheim, da verpetzt einer den andern nicht. Ein jeder ist seines Nächsten Alibi. Naturgesetz.»
Auf der Suche nach Erlösung
Ludwigs Plan ist die Vernichtung. Einer nach dem andern muss dran glauben. Keiner entkommt seiner strafenden Hand. Er kann nicht anders, denn er ist gekommen, um Rache zu nehmen für seine geschändeten Kameraden aus der Kindheit – und für sich selber, dem vor Jahrzehnten selber Leid angetan wurde. Das Wort «Missbrauch» kommt im ganzen Roman übrigens kein einziges Mal vor. Dennoch wird deutlich, welche Ungeheuerlichkeiten vor sich gingen, auch wenn die Details der Taten ausgespart sind.
Ludwig alias Coelestin fühlt sich selber als Schuldiger, weil er damals als Kind schwieg, zuschaute, ohne einzugreifen, seine Freunde nicht beschützen und retten konnte. Kann er, zugleich Täter und Opfer, nun Erlösung finden?
Der Münchner Autor Friedrich Ani hat diesen starken Roman geschrieben. Der mehrfach preisgekrönte Verfasser von Krimis (etwa die Reihe um den Fahnder Tabor Süden) und Hörspielen schlägt einen wuchtigen Ton an, den adäquaten Ausdruck der inneren Stimme eines Mannes in seinem Wahn. Ani kehrt gewissermassen die Perspektive um: War es bisher die Warte des Ermittlers, so lässt er hier und jetzt den Täter erzählen. In einer Geschichte aus einer finsteren Welt, in einem düsteren Roman über Schuld und Sühne, Wut und Wahn, in Abgründe tauchend, wo alles unerbittlich auf das denkbar schlimmste Ende zuläuft. Der titelgebende nackte Mann, der brennt, tut es mit einem inneren Feuer – und in der Konsequenz buchstäblich.
Buch
Friedrich Ani
«Nackter Mann, der brennt»
Roman
223 Seiten
(Suhrkamp 2016).