Vor Kurzem war ich in Turin, sass im Taxi, das mich zum Bahnhof bringen sollte. Die Sonne schien, die Blätter an den Alleebäumen leuchteten gelb, hoher Herbst, wir warteten an der roten Ampel. Noch bevor ich mich umdrehen konnte, traf mich der Blick eines Jungen. Er sass auf der Rückbank des Autos neben uns, starrte aus dem Fenster. Seine Augen hatten die Farbe des Pazifiks, in dem ich sofort unterging. Und nun schaute wie das Kind auch ich; wir starrten einander an, sahen uns und sahen nichts. Soll ich sagen, dass die Zeit anhielt? Dass ich schauend etwas berührte, das aus tiefer Ferne hierher zwischen zwei Autos, zwei Blicke gekommen war? Und das, während die Ampel rot leuchtete, ein Loch in den Tag riss? Das Kind sah grotesk aus, es hatte einen ausgeprägten Überbiss, sein Unterkiefer fiel gegen die hohe Stirn, die durchdringenden Augen gingen weit nach hinten zurück. Als wäre die untere Partie seines Kopfes einem anderen Körper zugehörig, einem zweiten Kind, das sich unter dem Blick des anderen verbarg.
Das Gesicht des Jungen lachte nicht, kein Lächeln, das ich ihm hätte andichten können. Es war ernst, konzentriert und gnädig. Der Junge war in sich vollständig, ein kleines, stilles Licht ging von ihm aus, erhellte ihn, und dann auch mich, ungewiss, woher es kam. Dass ich dem Jungen in den Blick gefallen war, machte mich froh. Ich dachte an die vielen von James Ensor gemalten Masken, ihre irre Gesellschaft, ihr Lachen, die aufgerissenen Münder und Augen, mit denen sie uns beistehen, wenn wir mit den Gespenstern ringen.
Ensors Mutter führte in Ostende einen Laden mit allen möglichen Karnevalsmasken, wo der Sohn ihr buntes Leben und Treiben schon früh studierte. Mir fiel auch Minetti ein, dieses Stück, das Thomas Bernhard dem Schauspieler Bernhard Minetti gewidmet hat und das dessen Namen trägt. Ein Winterabend am Rand der Welt und der Zeit, Silvester, Jahreswechsel, in einem Hotel an der belgischen Küste in Ensors Heimatstadt, wo das feste Land in die Unwägbarkeiten der Weltmeere übergeht.
Der Schauspieler Minetti sitzt in der Lobby und wartet auf den Intendanten des Flensburger Theaters. Für ihn möchte er noch einmal den Lear in der Ensor-Maske spielen. Wir werden im Stück weder die Maske noch den Intendanten zu sehen bekommen. Sondern den letzten darstellenden Künstler als greises Kind am Ende des Wegs, wenn kein Publikum ihn mehr in seiner Kunst bewundert und feiert, wenn sein Leben auf der Bühne aufgehört hat.
Nach langem, vergeblichem Warten geht der alte Lear zum Strand und lässt sich einschneien. Vielleicht, dachte ich, war das Kind im Auto sein Enkel, hatte Theaterblut in den Adern, und ich kam so endlich auf die Idee, ihm zuzuwinken. Das Kind hob seine Hand, winkte zurück; majestätisch wie Queen Elisabeth, wenn sie sich vom Bären Paddington verabschiedete. Um uns sanken Träume, Masken, Blicke um, während unsere Autos schon längst über alle Kreuzungen waren.
Wie bei Kafka und seinem Wunsch, Indianer zu werden. Erster Satz seines ersten Buchs, und ich schon bereit auf seinem rennenden Pferd, schief in der Luft, pfeilschnell und ohne Sporen, denn es gab keine Sporen, auch keinen Pferdehals, kein Pferd, jagte ich mitten durch Turin dem Mutterland der Lunatics entgegen, das, wie ihr Name sagt, auf dem Mond liegt. Manchmal, wenn wir Glück haben, schaut uns ein Kind mit den Augen des Pazifiks an, und wir landen auf dem Mond, dem Planeten des indirekten Lichts, nach dem solche Kinder und Masken benannt werden.
Die Engländer, die sie so nennen, sind ein Seefahrervolk, kennen sich aus mit den gravitativen Kräften, die Meere und Sterne bewegen. Kräfte, die auch die Gehirne und Gelenke der Menschen, ihre Seelen und Körper, ihr schwankendes, oft zerstreutes und träumendes Leben bestimmen. Vor ein paar Tagen erklärte mir eine junge Physikerin, dass der Mond beleuchtet sei, selbst leuchte er nicht. Wir sehen ihn immer nur von vorne, sagte sie, obwohl er doch einmal im Monat rund um die Erde wandert. Die Physikerin will ausser Physik auch noch etwas Gesellschaftsrelevantes machen. Beispielsweise Kindern, die nichts davon wissen wollen, Physik beibringen. Denn auch der Mond hat eine Achse, sagte sie, um die dreht er sich herum.
Die allerdings dürfen wir uns nicht wie eine Schnur vorstellen. Nicht wie bei Huckleberry Finn, der eine Ratte am Schwanz hält und um sich herumschleudert. Die dreht sich dann nämlich nicht um die eigene Achse, sondern wird um die Huckleberry’sche gedreht. Aber vielleicht habe ich das wieder falsch verstanden, und es ist eben doch genau wie mit der Ratte.
Manchmal, wenn keine Didaktik der Welt mehr ausreicht, Kindern einen Lehrstoff näherzubringen, sitzen plötzlich viele kleine Monde auf ihren Stühlen, und ein undurchdringlich helles und zugleich abgewandtes Licht macht sich breit, erfüllt den Unterrichtsraum. Denn immer ist der Mond im Spiel, wenn es um Abwesenheit geht. Franzosen sagen von den Tagträumenden, dass sie «dans la lune» seien. Es wird dann ganz still und bleich. Das ist der Moment, in dem aufmerksame Lehrer sehen, dass Kinder alles wissen. So wie vor dem Leben. So wie der Junge im Auto, der mich anschaute. Mondwerdung der Schülerinnen und Schüler steht in keinem Curriculum, aber in den Sternen, geschrieben in ihrer uralten Schrift. Was für ein Glück.
Friederike Kretzen
Friederike Kretzen wurde 1956 im deutschen Leverkusen geboren. Sie hat Soziologie und Ethnologie studiert und als Dramatur- gin am Residenztheater München gearbeitet. Seit 1983 lebt sie als freie Autorin in Basel. Kürzlich ist ihr Roman «Bild vom Bild vom grossen Mond» bei Dörlemann erschienen. Neben der schriftstellerischen Arbeit ist sie als Literaturkritikerin und Essayistin tätig und doziert an der ETH und am Literaturinstitut Biel.