Bald ist wieder das Familientreffen. Alle bringen ihre Raclette-Öfeli mit, erzählen, was sie in letzter Zeit gemacht haben und was sie demnächst tun werden. Alle gehen mit schwerem Magen nach Hause und denken einerseits, dass Cornichons zu Raclette wirklich nicht passen, und man Tante Helene andererseits nicht versteht, welche jedes Jahr Cornichons mitbringt und wieder nach Hause nimmt. Tante Helene und Cornichons, das gehörte schon in meinen Kindheitserinnerungen zusammen. Ich erinnere mich, dass wir bei ihr einmal zum Sonntagsbraten eingeladen waren, Tante Helene jeden Teller mit einem Cornichonfächer dekorierte und gelobt wurde für den exakten liebevollen Feinschnitt dieser sauren Dinge. Ich musste sie sogar essen. Unter Strafandrohung.
Tante Helene ist Fridus Ex-Frau und wird auch heute immer noch zu den Familienfesten eingeladen, weil man sich so an sie gewöhnt hat im Laufe der Jahre und es irgendwie seltsam wäre, Tante Helene nicht mehr dabei zu haben. Wieso das mit Tante Helene und Fridu auseinanderging, haben wir nie herausgefunden. Seit dem letzten Familienfest kann ich mir vorstellen, woran es gelegen haben könnte.
Fridu gehört zu der Sorte Menschen, die auf «Wie geit’s» mit «Es mues» antworten. Und wenn Fridu sagt: «Es mues», dann geht es ihm halbschlecht, wie es allen halbschlecht geht, die sagen: «Es mues» – vor allem jenen, die es in leicht wehleidigem Ton sagen, wie Fridu normalerweise. Dann weiss man, dass man bloss keine weiteren Fragen stellen sollte. Man muss dann jeweils auch schauen, dass man nicht grad mit denen am gleichen Raclette-Öfeli sitzt am Familienfest, sonst ist man mittendrin, wenn sie loslegen. Bei Fridu hing das «Es mues» oft mit der verflossenen Tante Helene zusammen. Bis vor knapp einem Jahr.
Vor knapp einem Jahr sass ich irgendwann doch neben Fridu am Raclette-Öfeli und hörte ein «Es mues» wie immer – aber nicht wegen Tante Helene, über die sei er längst hinweg, meinte er. Das Problem sei sein Nachbar.
Fridu erzählte, der Nachbar zwei Stockwerke unter ihm habe ihn vor einem halben Jahr gefragt, ob er kein Zeitungs-Sharing machen könnte mit ihm. Er, der Fridu, habe ja schliesslich die Lokalzeitung abonniert, ob er ihm diese nicht geben könne, wenn er sie gelesen habe. Er, Fridu, habe das eine gute Idee gefunden. So um neun Uhr ungefähr sei er jeweils fertig mit Lesen, habe er dem Nachbarn gesagt. Und dann habe er angefangen, jeweils nach dem Lesen die Zeitung bei sich auf die Türschwelle zu legen. Und wenn er mal etwas nochmals habe lesen wollen, habe er es markiert, und der Nachbar habe ihm die Ausrisse wieder nach oben gebracht und vor die Türe gelegt.
So weit, so gut. Aber vor fünf Monaten habe der Nachbar ihn gefragt, ob er die Zeitungen nicht ihm, dem Nachbarn, vor die Türe legen könne, er, der Fridu, gehe ja nach dem Zeitunglesen immer einkaufen, das gehe ja im Gleichen. Da könnte man sich ja ein bisschen Weg sparen. Fridu war einverstanden, und er hatte sich nichts dabei gedacht, als der Nachbar vor vier Monaten beiläufig meinte, es wäre schon noch praktisch, wenn die Zeitung wirklich um neun Uhr draussen auf der Türschwelle liege. Weil, wenn der Fridu manchmal erst nach halb zehn zum Einkaufen gehe, er, der Nachbar, immer vergeblich vor die Türe schauen müsse.
Da begann Fridu, dem Nachbarn die Zeitung um neun herunterzubringen, und manchmal ging er halt wieder hoch, wenn er im Sinn hatte, erst um halb zehn zum Einkaufen zu gehen. Und ein paar Tage später meinte der Nachbar, dem Fridu gehe es doch im Gleichen, wenn er die Ausrisse beim Hinaufgehen gleich mitnehmen würde. Er, der Nachbar, könne sich so zwei Stockwerke Treppengehen ersparen. Fridu hat auch das noch geschluckt, doch langsam, aber sicher seltsam gefunden.
Im Herbst ging Fridu in die Ferien und der Nachbar leerte den Briefkasten. Fridu war glücklich. Immerhin einen Vorteil brachte das Zeitungs-Sharing also doch. Als er von den Ferien zurückkam, lagen alle Zeitungen schön sortiert bei ihm auf dem Küchentisch. Zuoberst ein Brief von der Lokalzeitung. Adressiert an ihn, den Fridu.
Und schon klingelte es, der Nachbar stand vor der Türe und fragte, ob er den Brief auch lesen dürfe. Er, der Nachbar, habe sich drum in Fridus Namen ein bisschen gewehrt. Die Zeitung habe einmal erst um sieben Uhr am Morgen im Briefkasten gelegen. Dabei garantiere die Frühzustellung doch halb sieben. Da habe er, der Nachbar, dem Chefredaktor in Fridus Namen einen scharfen Brief geschrieben: Das gehe doch so nicht, wofür man denn ein Abonnement bezahle, wenn die Zustellung nicht klappe und so weiter. Das gehe doch so wirklich nicht, hat der Fridu daraufhin dem Nachbarn gesagt. Jetzt sei fertig. Ja aber, es habe doch so gut geklappt, und er habe es doch nur gut gemeint. Aber der Unggle Fridu, der hat so genug gehabt von diesem Zeitungs-Sharing, dass er dem Nachbarn ein Abonnement geschenkt hat.
Tante Helene meinte, das verstehe sie jetzt gar nicht. Diesem Nachbarn, dem gönne der Fridu ein Abonnement, das sei doch auch nicht billig. Ihr habe er nie was gegönnt. Ich nahm, noch bevor die beiden sich richtig in die Haare geraten konnten, reissaus an ein anderes Raclette-Öfeli.
Der Nachbar übrigens, erzählte Fridu später noch, der brauche seit einem Monat das Auto von Müllers, die einen Stock unter Fridu wohnen. Er brauche das Auto, wenn Müllers das Auto nicht brauchten. Und seit letzter Woche hängt der Schlüssel von Müllers Auto an einem Nagel vor Fridus Nachbarn Türe.
Bald ist es also wieder so weit. Familientreffen, Fridu und die Fortsetzung seiner Nachbarschaftsgeschichte.
Heinrich Gartentor
Der 1965 in Bern geborene Heinrich Gartentor ist Autor, Künstler, Kurator und Kulturpolitiker. Bekannt geworden ist Heinrich Gartentor als erster von der Künstlerschaft gewählter «Kulturminister der Schweiz» und als Organisator der «Nationalen Kunstausstellung» auf dem ehemaligen Autofriedhof in Kaufdorf BE. Gartentor erhielt 2007 den Kunstpreis der Stadt Bern und 2011 jenen der Stadt Thun. Gartentor lebt mit seiner Familie im Hinterland von Thun in Horrenbach-Buchen.