Mit einem Donnerschlag endet 1937 die unbeschwerte Jugend des 17-jährigen Franz Huchel. Sein bis anhin «vor sich hin tröpfelndes Leben» im österreichischen Nest Nussdorf nimmt eine unerwartete Wendung, als ein Blitz den reichen Liebhaber seiner Mutter erschlägt. Da nun der «regelmässige Geldsegen» ausbleibt, wird Franz, der Bub mit den zarten Mädchenhänden, von der Provinz nach Wien geschickt. Dort soll er dem Trafikanten Otto Trsnjek bei der Arbeit unter die Arme greifen.
Der «Deppendoktor»
Gänzlich unbedarft und grün hinter den Ohren kommt der 17-Jährige in Wien an. «Das ist nicht der Kanal, der da stinkt. Das sind die Zeiten. Faulige Zeiten sind das nämlich. Faulig, verdorben und verkommen!», wird er bei seiner Ankunft von einer alten Dame begrüsst. Doch Franz lässt sich nicht beirren. In der «Tabaktrafik Trsnjek», wo Zeitungen, Schreib- und Rauchwaren verkauft werden, lernt er das Handwerk von Grund auf.
Sein Lehrmeister Otto ist ein wortkarger, vom Krieg versehrter Herr, der ihm wohlgesinnt ist. Nur bei Franz’ ersten Erfahrungen mit der Liebe kann er ihm nicht weiterhelfen. «Ich versteh nichts mehr von diesen Dingen. Mit dem Bein ist auch meine Jugend im Schützengraben liegen geblieben», sagt er. Da bleibt nur einer übrig, den Franz fragen kann: Den «Deppendoktor» Freud, der ab und zu in der Trafik Zigarrennachschub holt.
Zwischen dem über 80-jährigen Professor und dem Dorfjungen entwickelt sich eine Freundschaft. Ihm kann Franz sein Herz ausschütten und von der drallen Böhmin Anezka erzählen, die er auf dem Prater kennengelernt hat. Unsterblich hat er sich in sie verliebt, obwohl sie den entflammten Jüngling nach ein paar Tänzen und einigen «Krügeln» Bier sitzen gelassen hat. Freud gibt zwar unumwunden zu, dass die Frauen auch für ihn ein Mysterium geblieben sind, einige Tipps hat er dennoch auf Lager: «Mit Frauen ist es wie mit Zigarren: Wenn man zu fest an ihnen zieht, verweigern sie einem den Genuss», gibt er dem naiven Franz etwa mit auf den Weg. Und er animiert ihn zum Aufschreiben seiner Träume, die der Autor wie kleine Poesieperlen in den Roman einstreut.
Das Jahr 1938
Der 46-jährige österreichische Autor Robert Seethaler hat mit seinem Roman eine wunderbare, mit viel Leichtigkeit und Witz erzählte Adoleszenzgeschichte geschaffen – dahinter ist aber immer das dunkle Donnergrollen der schweren Zeit hörbar, die sich in Wien ankündigt. Die alte Frau bei Franz’ Ankunft hatte die «fauligen, verkommenen Zeiten» bereits vorausgespürt: Das Jahr 1938, in dem sich Österreich an Hitlers Deutsches Reich anschliesst, spaltet Wien in eine Stadt von Nationalsozialisten, Verweigerern, Anpassern und Denunzianten. Ottos Trafik wird vom Metzger-Nachbarn mit Schweineblut beschmiert: «Schleich dich, Judenfreund», steht eines Morgens in zerlaufenen Lettern an der Scheibe.
Von da an geht es mit dem Erwachsenwerden für Franz ungewollt schnell voran – die politischen Umstände fordern ihm Entscheidungen ab, in denen er viel Mut beweisen muss. Und plötzlich steht er ganz alleine da: Die Gestapo holt den vom Metzgermeister denunzierten Otto ab, und der jüdische Professor Freud ergreift die letzte Gelegenheit, um nach England zu flüchten.
Leise Melancholie
Robert Seethaler, der auch als Schauspieler auf Bühne und Leinwand zu sehen ist, hat bereits in mehreren Werken sein Händchen für Coming-of Age-Geschichten bewiesen. Etwa im Roman «Jetzt wirds ernst» (2010), in dem sein junger Held aus der Provinz eine Theaterkarriere anstrebt – ein Weg, der von vielen, meist urkomischen Hindernissen gesäumt ist.
Mit «Der Trafikant» wagt er sich auf ernsteres Terrain: Ihm ist ein feinfühliges, von leiser Melancholie durchzogenes Werk gelungen, das zwischen Tragik und Komik schwankt. Mit wenigen Worten erzeugt er Atmosphäre und lässt Bilder lebendig werden. Seien das die von Furcht und Grössenwahnsinn geprägte Zeit oder Erinnerungen von Franz an seine behütete Kindheit. Seethalers Roman ist mehr als nur ein Buch über die Jugend: Es handelt von der Liebe, der Psychoanalyse, dem Verhalten der Menschen in Ausnahmesituationen und dem Mut des Einzelnen.
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Robert Seethaler
«Der Trafikant»
256 Seiten
(Kein & Aber 2012).
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