Zuerst sind es nur kleine Eruptionen, die das geordnete Leben der 37-jährigen Krankenpflegerin Stella durcheinanderbringen. Harmlose Störungen im ruhig dahinplätschernden Alltag mit Kind und Ehemann in einer Vorortsiedlung. Ein Nachbar ist der Störenfried, genannt Mister Pfister. Aus dem Nichts taucht er auf und klingelt an Stellas Türe, will mit ihr reden. Sie verweigert ihm ein Gespräch, doch der junge Mann lässt nicht locker, schreibt ihr Briefe, legt ihr Kleinigkeiten in den Briefkasten, klingelt täglich an ihrer Tür.
Der Albtraum beginnt
Was harmlos beginnt, vielleicht sogar als willkommene Abwechslung zu Stellas monotoner Beziehung mit ihrem gefühlsarmen Ehemann Jason, entwickelt sich zum Albtraum. Anfangs taucht noch die «Erinnerung daran auf, wie es einmal gewesen ist, verlockt zu werden» – doch dieses Gefühl weicht bald der Ernüchterung, dass sie nur Projektionsfläche ist für Mister Pfisters Wünsche, eine «imaginierte Stella». Sie schwankt zwischen Anziehung und Abstossung, fühlt sich von den täglichen Besuchen des seltsamen Nachbars zunehmend bedroht. Bald schon schreibt er seinen Namen auf ihr Briefkastenschild, beobachtet sie von der anderen Strassenseite aus, stellt ihr an ihrem Arbeitsort nach. Stella empfindet sein Verhalten als «Rücksichtslosigkeit» und «Unverschämtheit», als «Drohung», «Demütigung» und später gar als «Heimsuchung» oder «Strafe».
Der junge Mann verfolgt sie wie ein Schatten – physisch und in Gedanken. Durch Mister Pfisters Grenzüberschreitungen wird Stellas ganzes Leben, ihr «Ich», infrage gestellt. Sie beginnt, ihre Gewohnheiten zu ändern, damit sie ihm ausweichen kann, fühlt sich wie eine Fremde im eigenen Leben. Vieles, was vorher schon im Argen lag, wird durch Mister Pfisters Zudringlichkeiten verstärkt – ihre unbefriedigende Beziehung mit dem wortkargen, oft abwesenden Jason, ihr Unwohlsein im eigenen Leben, ihre unerfüllten Sehnsüchte.
Abbild des Alltags
Die 44-jährige Berliner Autorin Judith Hermann entwirft in ihrem ersten längeren Werk ein beklemmendes Szenario – eher Psychogramm als Psychothriller. Zur «Frankfurter Allgemeinen Zeitung» sagte sie: «Die Erfahrung, dass sich die bestehende, die scheinbar sichere, alltägliche und gewohnte Welt wie Papier zerschneiden lässt, in einem einzigen und manchmal vollständig banalen Moment» sei etwas, das ihr Angst mache. Im Roman «Aller Liebe Anfang» lässt sie dieses Szenario wahr werden: «Es klingelt an der Tür, und danach ist nichts mehr wie zuvor.» Minutiös, in ihrer typisch reduzierten Sprache beschreibt sie das drohende Unheil aus dem Nichts. Diese flirrende Gewitterstimmung, die jederzeit zu kippen droht, kurz vor dem grossen Knall. «Es ist etwas Elektrisches, es liegt in der Luft», schreibt Stella in einem Brief an ihre Freundin und meint damit nicht nur das Wetter.
Stellas Reaktion auf Mister Pfisters subtile Übergriffe, ihre lange andauernde Passivität, ihr Abwarten, sind symptomatisch für Judith Hermanns Figuren. Auch in ihren Erzählbänden «Sommerhaus, später» oder «Nichts als Gespenster» befinden sich die Protagonistinnen oft in der Schwebe: Sie sind erfüllt von Träumen und Sehnsüchten, aber verharren im Ist-Zustand. Ebenso zieht sich Stella in die Innerlichkeit zurück, reagiert lange nicht – bis es zum grossen Eklat kommt. Hermanns lakonische Ausdrucksform, die vieles im Vagen lässt, ist ein direktes Abbild von Stellas monotonem Alltag und ihrem Unvermögen zu handeln.
Stalking als Thema
Stalking ist das Thema des Buchs, ebenso handelt es aber von den unterschiedlichen Formen der Liebe – von der federleichten Verliebtheit bis zur krankhaften Obsession. «Liebe auf den ersten Blick, das hatte ich mit Jason. Aber das meine ich nicht. Ich meine das Gegenteil davon – das gleiche Gefühl, aber was Zerstörerisches dabei, etwas Ungutes», sagt Stella an einer Stelle und zeigt, wie fliessend die Grenzen zwischen Normalität und Wahnsinn sein können.
Judith Hermann
«Aller Liebe Anfang»
224 Seiten
(S. Fischer 2014).