Ein tiefer Gong ertönt aus dem Einsiedler Kloster. Auf der Treppe davor liegen grosse Stoffe in verschiedenen Goldtönen. Noch spazieren Touristinnen und Hündeler über den Klosterplatz und beäugen neugierig die Stoffe und die Menschentraube, die sich auf der Tribüne gebildet hat. Hier erklärt Regisseur Livio An dreina gerade: «Wenn der Arme mit der Marienstatue aus der Kirche kommt, dann ist die Marienstatue Besitz. Es geht in dem Moment um Reichtum, nicht um Religion.»
Geprobt wird für das Grosser eignis des Jahres. Denn in wenigen Wochen – 100 Jahre nach dem ersten Mal – wird hier das Welttheater gezeigt, das der spanische Dichter Pedro Calderón de la Barca im 17. Jahrhundert schrieb. Seit 1917 wird das Stück jedes Mal von einem an deren Dramatiker bearbeitet und vom Einsiedler Spielvolk auf dem akustisch besonders ge eigneten Platz vor dem Kloster gespielt.
Ein einzelnes Mädchen steht im Zentrum
Dem 17. Welttheater hat der Büchner Preisträger Lukas Bärfuss einen neuen Anstrich verpasst. Bei Calderóns Welttheater war Individualismus noch kein Thema, der Fokus lag auf Gott und seinem Himmelreich, vor dem am Ende alle gleich sind. Bärfuss dagegen rückt bei seiner schweizerdeutschen Version ein einzelnes Mädchen namens Emanuela ins Zentrum.
«Auf einer solchen Bühne braucht es Kontraste», sagt Lukas Bärfuss. «Laut und leise, Viele und Einzelne, Starke und Schwache. Und Kinder sind die Schwächsten. Gleichzeitig haben sie die Imagination und die Macht, die Zukunft zu verän dern.» Diese Dialektik mache es interessant, ein Mädchen durch sein Leben und seine Rollen im Welttheater zu begleiten. Dass es sich um eine Frau handelt, mache daraus auch eine feministische Geschichte. «Ihre Auflehnung ist noch wichtiger», sagt Bärfuss.
«Armut kann Menschen zerstören»
Neben den Kindern gibt es wie bei Calderón auch bei Bärfuss Bauern, Reiche, Arme, Schöne, Elende und andere Rollen, die auf die Bühne kommen und sie mit dem Tod wieder verlassen. Nachdem Emanuela erwachsen geworden ist und ihre Unschuld verloren hat, wird sie arm. Und in diesem Teil schönt Bärfuss nichts: «Einige werden überrascht sein, wie hart die Armut dargestellt ist», sagt der Autor, der selbst einige Zeit lang obdachlos war. «Armut kann Menschen zerstören. Sie verkaufen ihre Kinder, das Kostbarste, was sie haben, sie nehmen Drogen. Das ist die Welt, in der wir leben.»
Zurück auf den Klosterplatz: Der Choreograf Graham Smith hat für jeden Augenblick der Tücherszene eine Skizze mit Goldtönen angefertigt. Nun rennt er atemlos auf der Bühne herum, korrigiert hier einen Standpunkt, zeigt dort, wie das Tuch anders gespannt sein muss, damit es keine Falten wirft. Währenddessen läuft Livio Andreina die riesige Tribüne ab, auf der gut 2000 Menschen Platz finden, und kommuniziert via Mikrofon mit den Spielleuten auf dem Kloster platz. Dann fällt das Mikrofon aus, er muss rufen und selbst auf dem Platz herumrennen.
«Das Welttheater ist ein Logistik-Gigant»
«Die riesige Bühne ist eine Herausforderung», sagt Bärfuss. «Dialoge wirken dort anders, und wir mussten die langen Gänge miteinberechnen. Das Welttheater ist ein Logistik-Gigant.» Für ihn als Autor sei es zudem ein «Anti-Ego-Projekt». Er habe sich komplett in den Dienst des Welttheaters gestellt. «Irgendwann habe ich verstanden: Die Menschen in Einsiedeln messen ihr Leben am Welttheater. Sie erzählen sich, wie sie vor 30 Jahren die Schönheit oder einen Bauern gespielt haben. Das Welttheater ist ein Teil von ihnen und vom Dorf.» Die rund 500 Laien vor und hinter der Bühne würden mit grosser Leidenschaft arbeiten.
Viele von ihnen hätten wohl das politische Heu nicht auf der selben Bühne, sagt er. «Aber das spielt für das Theater keine Rolle.» Dadurch, dass sich so viele unterschiedliche Menschen miteinander arrangieren müssten, entstehe ein Ort des Friedens. Gleichzeitig schenke man sich in den künstlerischen Debatten nichts. Jede Grenze und Schwäche werde ausgeleuchtet und zu überwinden versucht. Diese Rebellion habe nicht zuletzt auch mit dem imposanten Kloster zu tun, das über allem thront.
Bärfuss sagt: «Das Kloster repräsentiert Macht. Wenn du im Schatten eines solchen Prunkbaus einer globalen Organisation lebst, brauchst du eine anarchische Energie, die etwas dagegenhält. In Einsiedeln zeigt sich diese Energie im Welttheater und in der Fasnacht.» «Ich bin riiich, riich, riich!» Regisseur Andreina liest den Text der Emanuela vor, während die Spielleute jeweils des Status, den die Falten ihres Gewands anzeigen. «Nicht zu doll, wir wollen keine Stolperfallen», mahnt Andreina. Dann lässt er die Scheinwerfer anzünden. Es ist jetzt fast dunkel auf dem Klosterplatz. Wieder ertönt ein tiefer Gong.
«Die Szenen wirken, weil sie wahr sind»
Irgendwann wird Emanuela zur Greisin. Und wie alle Figuren muss auch sie abtreten. Der Tod macht keine Ausnahmen. Ist die Botschaft also doch dieselbe wie bei Calderón? Bärfuss sagt, statt im Ende eine Aussage zu suchen, müsse man das Stück aus den einzelnen Szenen heraus verste hen. «Sie wirken, weil sie wahr sind.» Im Welttheater stecke die ganze Welt, das ganze Leben und der Tod. «Viele Menschen kennen heute ihre Rolle im Leben nicht mehr. Sie hadern damit, sind unglücklich, weil sie sich die Rollen nicht aussuchen können», sagt Bärfuss und gibt nun doch eine Art Botschaft mit. «Einige schaffen es, ihre Rolle anzunehmen. Und das sind die Glücklichen.»
Welttheater Einsiedeln
Premiere: Di, 11.6., 20.45
Klosterplatz Einsiedeln SZ
www.einsiedlerwelttheater.ch
Kulturplatz:
Welttheater Einsiedeln Spezial
So, 16.6., 20.10 SRF 1
Sternstunde Kunst:
100 Jahre Welttheater Einsiedeln
So, 23.6., 12.00 SRF 1