Manchmal mutet es slapstickartig an: Sängerinnen und Sänger rutschen in kurzen Hosen und mit Sonnenbrille auf dem rohen Holzboden herum. So ungewöhnlich setzen sie Giacomo Puccinis (1858–1924) im Jahr 1302 spielende frühe Oper «Edgar» in Szene. In einem kleinen Zelt auf der Tribüne gegenüber sitzt der Regisseur Tobias Kratzer und gibt seine Anweisungen per Mikrofon. Oder er rennt gleich selbst heran, um etwas zu besprechen.
Opern mit Bezug zum kirchlichen Rahmen
Dies ist seine zweite Probe auf dem Platz zwischen der St. Galler Kathedrale und dem Regierungsgebäude, der jetzt in der Abendsonne leuchtet. Und es ist seine erste Open-Air-Inszenierung. «Deshalb habe ich auch Ja gesagt», erklärt der 38-jährige Deutsche später im Hotel. Gut vorbereitet ist er: Die letzten drei Produktionen schaute er sich hier live an: Alfredo Catalanis «Loreley», Jules Massenets «Le Cid» und Giuseppe Verdis «I due Foscari».
Kratzer, der auf deutschsprachigen Bühnen wie der Bayerischen Staatsoper oder der Oper Graz Erfolge feierte, kennt das St. Galler Konzept: Im Anschluss an die Theatersaison werden auf dem Klosterhof selten gespielte Opern aufgeführt, die einen Bezug zum religiösen Umfeld haben. Drinnen in der Kathedrale wird ein Tanzstück erarbeitet, und um diese zwei Hauptproduktionen herum finden an anderen, ebenso stimmungsvollen Orten Konzerte statt. Gerade die Konzentration auf unbekannte Werke bekannter Komponisten hat den Festspielen ein treues Publikum verschafft – wenn nicht gerade das Wetter den Vorstellungen übel mitspielt. Hier konnte man Verdis «Giovanna d’Arco», Gaetano Donizettis «Il diluvio universale» oder Hector Berlioz’ «La damnation de Faust» erleben, in manchmal eindringlichen (wie bei Berlioz’ Faust-Drama), manchmal auch optisch allzu aufdringlichen Inszenierungen (wie bei Massenets «Cid» mit seinen an die Rückwand der Kathedrale geworfenen Projektionen) kennenlernen.
Puccinis zweite Oper «Edgar» passt in diese Tradition. Die Musik lässt schon «La Boheme», «Tosca» oder «Turandot» erahnen: Trotzdem wurde «Edgar» 1889 von Kritik und Publikum sehr verhalten aufgenommen. «Gott schütze dich vor dieser Oper», warnte Puccini später seine Freundin Sybil Seligman vor diesem Werk. Der Musikpublizist Richard Erkens nennt sie einen «unausgereiften Verschnitt» in seinem gerade erschienenen Puccini-Handbuch: «‹Edgar› ist sicherlich Puccinis problematischste, wenngleich entwicklungsgeschichtlich aufschlussreichste Oper, mit der sich der Komponist erstmalig eine musikalische Grossform mit vielfältigen dramatischen Situationen erschloss.»
Die Handlung braucht Raum
Kratzer sieht diese Mängel, auch wenn er betont, dass Puccini sich auf die ursprüngliche, vieraktige Fassung des Werks bezogen habe und nicht auf die spätere, drei Akte umfassende und dadurch konzentriertere Version, die in St. Gallen gespielt werde. «Zu den Schwächen gehört sicher, dass ‹Edgar› eine eher klischierte Grundkonstellation hat, mit einem entscheidungsunfähigen Mann, der zwischen einer ‹Femme fatale› und einer ‹Femme fragile› steht», sagt er. Ausserdem seien die Figuren «nicht mit einer präzisen Psychologie ausgemalt, sondern eher holzschnittartig». Dies passe aber in den Rahmen des öffentlichen Platzes. «Als intimes Kammerspiel würde ‹Edgar› nicht funktionieren.» Hinzu kommen die Schauplätze der Oper. Der erste Akt spielt parallel zu einer Messe, der dritte enthält ein vorgespieltes Requiem. «‹Edgar› ist ein verborgenes christliches Mysterienspiel, das wird vor der Kulisse der Kathedrale besonders sinnfällig.»
Das ist Kratzers Ansatzpunkt: «Als Bühne nehmen wir ein dreidimensional nachgebautes Bild, die ‹Anbetung des Lammes› aus dem Genter Altar von Jan van Eyck von 1432. Das Stück beginnt als lebendes Bild, daraus entsteht alles Weitere. Es wird demontiert – und zum Ende zu einer fast menschenleeren Paradieslandschaft. In diesem Bildkonzept spiegelt sich, dass «Edgar» ein Stück über jene Glaubenskrise ist, die Puccini selber durchmachte: Er lebte in wilder Ehe mit seiner späteren Ehefrau Elvira, die noch mit einem anderen verheiratet war. Und als kurz darauf sein Bruder an Gelbfieber stirbt, schreibt Puccini: «Gott, wenn es ihn gibt, ist sehr grausam!»
Edgar
Premiere: Sa, 29.6., 21.00
Festspiele, Klosterplatz St. Gallen
www.stgaller-festspiele.ch