«Angriff ist die beste Verteidigung!» Mit dieser Kampfansage reisst Omar ein Gewehr aus seiner Tasche und zielt mit dem Lauf auf die Polizisten vor seinem Haus. Sein jüngerer Bruder Hazem wirft sich dazwischen, versucht, ihn abzuhalten: «Wir sind keine Mörder!» Beide Brüder sind zu einem Verhör bei der Geheimpolizei einbestellt, wo sie Folter befürchten. Beide leiden unter dem autokratischen Regime unter Staatspräsident Hosni Mubarak, doch sie haben für ihren Freiheitskampf verschiedene Wege gewählt. Hazem ist Pazifist und hat sich dem gewaltlosen Protest der sogenannten «Facebook-Revolution» angeschlossen. Der arbeitslose Omar hingegen will seinen angestauten Frust loswerden und identifiziert sich mit dem gewaltbereiten Widerstand. «Diktatoren abknallen!», ist sein Heilsmittel.
Dieser Ausschnitt aus den Proben in der Rythalle Solothurn zeigt exemplarisch die unterschiedlichen Perspektiven, aus denen der niederländische Dramatiker Ad de Bont in seinem Stück «Tahrir» erzählt. Er richtet den Blick von der grossen Revolution auf einzelne Schicksale. Die verschiedenen Positionen, welche die Freiheitskämpfer im Arabischen Frühling einnehmen, verhandelt de Bont im Mikrokosmos der fiktiven Familie Abdel Baset: Nicht nur unter den Brüdern herrscht Uneinigkeit. Schwester Israa ist im Dilemma, da ihr Mann Polizist ist und bei den Demonstrationen die Gegenposition einnehmen muss. Mutter Jasmina ist nach dem Tod ihres Mannes in grösster Sorge um ihre aufbegehrenden Kinder.
«Im Stück geht es um all die, welche ein Risiko eingehen müssen, um für die Rechte der Demokratie zu kämpfen – während in unserer gepolsterten Demokratie über 50 Prozent Stimmbeteiligung schon eine Sondernachricht wert ist», führt Regisseurin und Schauspiel-Direktorin Katharina Rupp am Rande der Proben aus.
Mit persönlichem Bezug
In Rupps multikulturellem fünfköpfigem Schauspielteam sind zwei Schauspieler vertreten, welche einen persönlichen Bezug zur arabischen Revolution haben. Der 25-jährige Josef Mohamed, der in der Rolle des Pazifisten Hazem zu sehen ist, hat ägyptische Wurzeln. Sein Vater hat an den Protesten auf dem Tahrir Platz teilgenommen – für die Schweizer Inszenierung hat er dem Theaterteam per Skype die richtige Aussprache der arabischen Ausdrücke geliefert. Die iranische Schauspielerin Atina Tabé, die Israa spielt, ist aus Teheran geflüchtet und kennt diktatorische Zustände. Bei den Proben fliesse auch einiges von den Lebenserfahrungen der Schauspieler in das Stück ein, sagt Rupp.
Rege diskutiert wurde die Frage, ob sie in die Inszenierung Video-Sequenzen, welche die Proteste zeigen, einbeziehen sollen. «Wir haben uns dagegen entschieden. Diese gewaltigen Bilder, die jeder aus der Tagesschau kennt, müssen wir im Theater mit anderen Mitteln einholen», ist Rupp überzeugt. Das schlichte, schwarze Bühnenbild von Karin Fritz ist ausgestattet mit einer kreisrunden Fläche – demTahrir Platz –, die sich mit spezieller Beleuchtung und mehreren Türen an der hinteren Wand unterschiedlich bespielen lässt. Eine Tonkulisse holt die Bilder des Arabischen Frühlings in die Köpfe der Zuschauer: die Sprechchöre der Demonstrierenden, der gewaltige Aufmarsch der Polizei, die Ambulanz oder Protestlieder, die gesungen wurden. Die arabische Musik von Olivier Truan verstärkt diese Atmosphäre.
Jugendnahes Stück
Eine Besonderheit von Ad de Bonts Stück ist die Verknüpfung der aktuellen Ereignisse in Ägypten mit Schillers «Wilhelm Tell». Auch wenn die Freiheitskämpfe gegen die tyrannische Übermacht rund 720 Jahre auseinanderliegen, sind doch einige Parallelen auszumachen. Gewisse Schlüsselszenen aus «Wilhelm Tell» wie der Apfelschuss oder die Szene, als Tell in der hohlen Gasse auf den Tyrannen wartet, tauchen in «Tahrir» leicht verfremdet wieder auf. Die Reminiszenzen an den Schiller-Text zeigen sich auch sprachlich. Moderne Alltagsdialoge wechseln sich ab mit Monologen, die in ihrer Ausdrucksweise, in Rhythmus und Metrik an den Schiller-Text erinnern.
Die Schweizer Erstaufführung in Solothurn und Biel richtet sich an alle Altersgruppen – insbesondere an Jugendliche. Ihnen bietet der für seine jungendnahen Stücke bekannte Autor einen aktuellen Zugang zu «Wilhelm Tell» und ein politisch brisantes Thema. Der Freiheitskampf, der seinen Anfang auf den sozialen Netzwerken Facebook und Twitter nahm, dürfte auch bei ihnen auf Interesse stossen.
Der Umbruch in Ägypten
Das Theaterstück «Tahrir» deckt eine dreieinhalbjährige Zeitspanne ab: Es beginnt am 6. Juni 2010, als der junge Ägypter Khaled Said von staatlichen Sicherheitskräften zu Tode gefoltert wird. Der Widerstand erwacht: Auf der Facebook-Seite «We are all Khaled Said» fordern Tausende Gerechtigkeit für das unschuldige Opfer. Im Januar 2011 strömen zehntausende Menschen auf den Tahrir-Platz in Kairo und protestieren gegen Hosni Mubaraks Regierung. Es kommt zu schweren Auseinandersetzungen zwischen der Polizei und den Demonstranten. Die anfängliche Euphorie des Arabischen Frühlings verebbt bald. In Ägypten kommt 2013 die radikale Muslimbruderschaft unter Mohammed Mursi an die Macht – im Widerspruch zu den Zielen der Demonstrantinnen und Demonstranten. Nach zahlreichen blutigen Protesten wird 2013 eine Übergangsregierung eingesetzt. Die Präsidentschaftswahlen am 26. Mai 2014 werden von vielen als Farce bezeichnet. General Abd al-Fattah as-Sisi, der ein Jahr zuvor die Machtübernah-me des Militärs geleitet hatte, gewinnt die Wahl. Das Theaterstück endet kurz vorher im Februar 2014.
Tahrir
Ab So, 2.11., 19.00 Rythalle Solothurn
Di, 4.11., 19.30 Stadttheater Olten
Ab Di, 18.11., 19.30 Stadttheater Biel
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