Oliver B. sass im ICE von Basel nach Hamburg und schaute die Notizen durch, die er sich für sein Vorstellungsgespräch gemacht hatte. In Freiburg setzte sich eine Frau ihm gegenüber auf den reservierten Platz, nachdem sie die Sitznummer mit ihrer Fahrkarte verglichen und ihren kleinen Rollkoffer in den Zwischenraum hinter dem Sitz geschoben hatte.
Oliver B. nickte ihr kurz zu und rückte dann seine Sichtmappen, die er auf das Tischchen gelegt hatte, etwas zurück.
Die Frau bedankte sich mit einem Nicken, öffnete ihre Handtasche, legte ein Buch vor sich auf das Tischchen und darauf ihr Mobiltelefon. Oliver B. war unterwegs nach Kassel. Er hatte sich auf eine Ausschreibung für die Stelle eines wissenschaftlichen Mitarbeiters der «documenta» gemeldet und war zu seiner Überraschung in die engere Wahl gekommen. Man hatte ihn zu einem Zoom-Gespräch gebeten, doch er hatte angeboten, persönlich vorzusprechen, da er ohnehin beruflich nach Norddeutschland reise. Das traf zwar nicht zu, doch er hatte kein Vertrauen in Videokonferenzen, bei denen oft technische Probleme im Vordergrund standen. Der Ton fiel aus, die Gesichter wackelten oder froren ein, und in jedem Laptop blieb die Aura stecken wie in einem Spam-Filter.
Die Sitzung war auf 16 Uhr angesetzt, der Zug sollte etwa 20 Minuten vorher in Kassel Wilhelmshöhe ankommen. Er las sein CV nochmals durch, Doktorats-Abschluss Uni Zürich, Assistenzstellen Fondation Beyeler und Kunsthalle Bern, Lehrauftrag Uni Bern, kuratierte thematische Kunstausstellungen, Publikationen in Anthologien, div. Artikel über zeitgenössische Kunst (Zeit, NZZ), verh., eine Tochter, Wohnort Bern.
Ein zirpender Klingelton zeigte der Frau gegenüber an, dass eine Nachricht für sie eingetroffen war, sie klappte ihr Handy auf und las sie, blickte eine Weile nach oben und begann dann eine Antwort einzutippen.
In einem seiner Artikel hatte er das Konzept der «documenta» kritisiert, die Ausstellung zeitgleich in Athen und Kassel durchzuführen, und hatte ihr fehlende Sensibilität für den Klimawandel vorgeworfen. Dass er trotz dieses Artikels zu einem Gespräch eingeladen wurde, hatte ihn verwundert – oder war es wegen dieses Artikels?
Während die Frau gegenüber immer noch auf dem Handy herumtippte, warf Oliver einen Blick auf ihr Buch, von dem nun das Cover zu sehen war. «Tanya Tagaq – Eisfuchs» stand auf dem weissen Umschlag, von dem einen das fein gezeichnete Gesicht eines Fuchses anblickte.
Dann überflog er noch einmal einen Essay, den er über afrikanische Künstler und ihre Nähe zur «Arte povera» verfasst hatte und der noch nicht publiziert war.
Als nun ein Kellner vorbeikam und fragte, ob er etwas aus dem Speisewagen bringen könne, bestellte die Frau einen Schwarztee und Oliver ein Käsesandwich und eine Apfelschorle. Mit einer gewissen Spannung wartete er darauf, dass die Frau ihre Schutzmaske anhob und damit ihr Gesicht sehen liess. Seit das Tragen von Masken in Zügen und Strassenbahnen obligatorisch war, hatten die Frauen für ihn an Reiz gewonnen, und er begann die Araber zu begreifen, welche ihre Frauen nur vermummt in die Öffentlichkeit liessen.
Die Frau vis-à-vis war nun dazu übergegangen, mit dem Mittelfinger auf ihrem Bildschirm hinunterzufahren, und Oliver überlegte einen Moment, welche Nachrichten sie wohl suchte, bevor er sich wieder seinem Essay zuwandte.
Es gibt verschiedene Arten, sein Gesicht kurzzeitig von der Maske zu befreien, um etwas zu essen oder zu trinken. Man kann sie unter das Kinn schieben, ohne die Bändel von den Ohren wegzunehmen. Davon wird allerdings abgeraten, da man später beim Hinaufstreifen ein Virus vom Kinn mitnehmen kann. Dafür sehen alle: Die Maske ist da. Oder man kann die Bändel von einem Ohr wegnehmen und die Maske vom andern Ohr baumeln lassen. Der Nachteil: Die Brosamen eines Sandwichs können auf die Innenseite der Maske fallen. Aber auch hier ist für jedermann klar zu sehen, dass die Maske da ist. Nimmt man sie hingegen ganz ab und steckt sie irgendwohin, riskiert man Killerblicke anderer Passagiere: Keine Maske – die achte Todsünde! Dann gibt es noch die Möglichkeit, die Maske für einen Schluck Tee so weit hochzuziehen, dass die Lippen frei werden, und diese danach gleich wieder mit dem Stoff zu bedecken.
So machte es die Frau, die Oliver gegenübersass, und während er sich mit der Baumelmethode abmühte, musste er sich gestehen, dass er etwas enttäuscht war. Sie trug eine Maske mit blauen Sternen, die sie bestimmt zu ihren schönen blauen Augen ausgelesen hatte. Was für ein Geheimnis war doch ein Gesicht, ein ganzes Gesicht.
Aber auch er hatte gelernt, den Ausdruck des ganzen Gesichts in den Augen zu lesen, und als der Kellner kurz nach Mannheim mit der Rechnung kam und fragte: «Zusammen?», lächelte sie, bevor sie den Kopf schüttelte, schaute auch kurz zu ihm hinüber,als prüfe sie ihn als möglichen Partner.
Oliver erwiderte ihren Blick, lächelte ebenfalls und verpasste dabei die Gelegenheit, sie einzuladen. Er, verh., eine Tochter, Wohnort Bern, reiste seit langer Zeit wieder einmal ins Ausland, und in ihm stieg plötzlich eine Abenteuerlust auf, wie er sie schon lang nicht mehr gespürt hatte.
Der Zug fuhr in den Frankfurter Bahnhof ein, die Frau hatte ihren Eisfuchs und ihr Handy in die Handtasche gepackt, hatte ihm zugenickt und sich mit dem Rollkoffer in die Reihe der Aussteigenden gestellt.
Da stand Oliver auf, packte seine Unterlagen hastig in den Stadtrucksack, nahm den Koffer hinter seinem Sitz hervor, stieg ebenfalls aus und folgte der Frau vom hintersten Wagen, in dem sie gesessen hatten, über den ganzen Bahnsteig bis zur grossen Halle am Ende der Gleise. Dort schaute sie sich suchend um, wandte sich dann nach links, und als Oliver schon fast auf gleicher Höhe mit ihr war und sich einen Satz überlegte, kam ihr ein Mann entgegen, den sie herzlich umarmte, bevor sie sich bei ihm einhängte und mit ihm zusammen weiterging.
Oliver B. blieb abrupt stehen und klammerte sich an den Bügel seines Koffers, verstört über sich selbst. Nach einer Weile drehte er sich um, ging zum Bahnsteig zurück, zögerlich zuerst, dann immer schneller, und sah gerade noch, wie sich der ICE nach Hamburg langsam in Bewegung setzte.
Franz Hohler
Der vielfach ausgezeichnete Schriftsteller und Kabarettist prägt mit seinen Geschichten seit rund 55 Jahren das Schweizer Kulturleben. Im Herbst erscheint sein neuer Erzählband «Der Enkeltrick» im Luchterhand Verlag. Die Erzählung «Maskenzwang» ist Teil davon. Franz Hohler (*1943) lebt in Zürich-Oerlikon.