Kenianische Dörfer werden an uns vorbeigezogen, lauter Stände, Hütten, Baracken und kleine Läden sind nebeneinander aufgereiht, zum Teil nur aus Latten und Plastikplanen oder Wellblechdächern zusammengesetzt, mit marktschreierischen Aufschriften, «Highway Pork Center» steht an einer Bretterbude, oder über dem Eingang eines halb verfallenen Häuschens «Modern Inn Hotel»; vor einer Schranke, hinter der nichts zu sehen ist, «God’s mercy carwash». Dem Betreiber einer «Macho butchery» möchte man lieber nicht begegnen, da ginge man doch lieber in die «Digital butchery», was immer das sein mag.
Die Strasse gehört in einem Masse den Fussgängern, wie wir das schon längst nicht mehr kennen, die Menschen gehen mit gelben Kanistern zu den Wassertanks, sie tragen Bündel von Holz auf dem Rücken oder Säcke mit Kartoffeln auf der Schulter, sitzen zu viert auf einem Motorrad, das über die vielen Strassenschwellen holpert, in jedem Dorf sitzen ein paar junge Männer unter einem Baum oder auf einer Kreuzung und warten mit ihren bunt bemalten Motorrädern auf Kunden für Taxidienste, ihre «Boda Bodas» sind ein unentbehrlicher Teil des öffentlichen Transports. Unzählige Kirchen machen auf sich aufmerksam, die Katholiken sind da und die Anglikaner, alle Abkömmlinge der Protestanten, von den Methodisten über die Neuapostolen bis zu den Adventisten, die Evangelikalen sind nicht zu übersehen und nicht zu überhören, an einem Sonntag hört man im Vorbeifahren die leidenschaftlichen Stimmen der Prediger aus den Lautsprechern, orchestriert von an- und abschwellenden Choralgesängen aus der nächsten Kirche, in der Gott unter anderem Namen verehrt wird. Wohin sind wohl all die Masken, Trommeln und Schamanenkleider verschwunden, die uns in Scharen ins Rietbergmuseum ziehen? Ist es möglich, dass Jesus sie alle in die Flucht geschlagen hat?
Der Grund unserer Reise ist ein familiärer. Einer unserer Söhne hat eine Kenianerin geheiratet, und jetzt besuchen wir die Familie seiner Frau.
In der Familie ihrer Mutter, bei der wir auf dem Land zu Gast sind, wird vor dem Essen ein Gebet gesprochen, nach dem Essen ebenfalls, und vor dem Abschied fassen sich alle, die da sind, an den Händen, bilden einen Kreis, und mit einem Dankesgebet wird unsere Zusammenkunft abgeschlossen. Mit dabei sind auch die Verstorbenen, denn sie werden im Boden beerdigt, auf dem sie gelebt haben, und sie bleiben als stille Mitbewohner bei ihrer Sippe. In vielen Dörfern gibt es deshalb keine Friedhöfe.
Der ausladende Baum mit den Macadamia-Nüssen, unter dem wir auf dem Rundgang durch das bäuerliche Grundstück stehen, wurde auf dem Grab einer Vorfahrin gepflanzt. Tee, Kaffee, Avocados, Bohnen, Mais, Kartoffeln, Maniok, Kühe, alles trägt zum Einkommen und zur Selbstversorgung bei. Es ist das Gegenteil von Monokultur.
Das Land erstreckt sich bis in die Stadt. In Nairobi suchen magere Kühe zwischen dem Abfall in den Strassengräben nach letzten Gräsern, auch Ziegen und Schafe von Nomaden sind zu sehen, aber gleich dahinter stehen Glasbauten und Einkaufszentren, «Airport View Hotel» oder «Carrefour». Aus den Lastwagen entweichen schwarze Giftwolken, Zisternenwagen mit der Aufschrift «Clean Water» wirken wie eine Verheissung. In den wohlhabenden Quartieren füllen sie die Tanks auf den Dächern auf, um das Wasser aus den Leitungen zu ergänzen. In den vernachlässigten Vierteln ist das Wasser rationiert, durch die Leitungen wird einmal pro Woche Wasser in die Vorratszisternen gepumpt, aber der Druck reicht nicht bis zum 3. Stock der Mehrfamilienhäuser, und die Leute müssen das Wasser selbst die Treppen hinauftragen und es in grossen Eimern in der Wohnung aufbewahren. Unten im Hof hat jede Wohnung einen eigenen Wasserhahn mit eigenem Zähler, denn gratis ist das Wasser nicht, und wer nicht bezahlt, wird gebüsst.
Ich fotografiere die Wasserhahnen, diese eigenartige Versammlung von Metallhälsen, die aus dem Boden ragen; gerne würde ich auch die Strassendörfer fotografieren, aber ich bin nicht allein im Auto, es geht alles zu schnell.
Später, im Meru Nationalpark, wo wir mit einem Fahrer unterwegs sind, gelingt mir das eine oder andere Bild, Giraffen, Zebras, Wasserbüffel, eine Nashornmutter mit ihrem Jungen, eine Elefantenfamilie beim Wässern und Sandduschen, eine Schar von Geiern vor einem frischen Aas, aber als später die zwei Löwen an mir vorbeispazieren, die das Tier wohl gerissen haben, erscheint statt des Bilds auf dem Display der Vorschlag «Bilder zwischen Kameras übertragen». Bis die Schrift weg ist, sind auch die Löwen weg. Ich verfluche die Firma Canon, die mir bei jeder Gelegenheit irgendwelche technischen Nutzlosigkeiten einspielt statt mich einfach fotografieren zu lassen. Zugleich frage ich mich, woher der Magnetismus kommt, ein Bild zu machen, wenn man einen Fotoapparat dabei hat. Wieso schaut man nicht einfach hin und freut sich? Noch nie habe ich Löwen von so Nahem gesehen, ich habe mich sogar gefürchtet, denn der Jeep unseres Fahrers war offen und hatte keine Scheiben.
Das einzige Fremdwort aus dem Suaheli in der deutschen Sprache ist Safari, und es heisst Reise.
Wenn eine Frau heiratet, gehört sie von da an nicht mehr zu ihrem Stamm, sondern zum Stamm ihres Mannes. Die Frau meines Sohnes gehört jetzt zu unserem Stamm. Ich als Vater bin der Stammesälteste und komme zur überraschenden Einsicht, dass ich nun auch ein Kenianer bin und bei den Marathonläufen nicht mehr vergeblich auf den Sieg eines Schweizers zu hoffen brauche.
Franz Hohler
Der Schweizer Schriftsteller Franz Hohler (*1943) ist bekannt für seine Romane, Erzählungen und Jugendbücher, für seine Bühnentexte, Lieder und politische Satire. Zuletzt erschienen ist der Gedichtband «Sommergelächter» und der von Kathrin Schärer illustrierte Band mit Franz Hohlers Tiergedichten für Kinder:
«Am liebsten ass der Hamster Hugo Spaghetti mit Tomatensugo». Franz Hohler hat zahlreiche Auszeichnungen erhalten, unter anderem den Salzburger Stier. Er lebt in Zürich Oerlikon.