Fotosujets aus den Tiefen New Yorks
Konfrontation mit der <br />
US-amerikanischen Fotografin Diane Arbus im Winterthurer Fotomuseum: Für den Besucher sind ihre Bilder als Freakshow neu zu entdecken.
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Kulturtipp 05/2012
Rolf Hürzeler
Der Junge mit der Spielzeug-Handgranate steht im New Yorker Central Park, fotografiert im Sommer 1962. Das Bild ist in der neuen Ausstellung mit Werken der amerikanischen Fotografin Diane Arbus im Winterthurer Fotomuseum zu sehen.
Gestellt oder nicht? Man kann sich fast nicht vorstellen, dass die Fotografin dem Knaben so je mitten in New York begegnet sein könnte. Urs Stahel vom Winterthurer Fotomuseum spricht von einer «leicht theatralischen Situation». Das Bild s...
Der Junge mit der Spielzeug-Handgranate steht im New Yorker Central Park, fotografiert im Sommer 1962. Das Bild ist in der neuen Ausstellung mit Werken der amerikanischen Fotografin Diane Arbus im Winterthurer Fotomuseum zu sehen.
Gestellt oder nicht? Man kann sich fast nicht vorstellen, dass die Fotografin dem Knaben so je mitten in New York begegnet sein könnte. Urs Stahel vom Winterthurer Fotomuseum spricht von einer «leicht theatralischen Situation». Das Bild sei «halb-inszeniert». Das heisst, Arbus hat den Jungen mit der Handgranate im Central Park entdeckt. Sie fragte ihn, ob sie ihn fotografieren dürfe – und arrangierte seinen Auftritt für die Linse.
Diane Arbus gilt heute als eine der wichtigsten Fotografinnen der Nachkriegszeit. Ihre Biografin Patricia Bosworth stellt sie künstlerisch in eine Reihe mit der mexikanischen Malerin Frida Kahlo und der englischen Dichterin Sylvia Plath, die wie Arbus Suizid beging.
Isoliert aufgewachsen
Die 1923 geborene Diane Arbus wuchs in einem wohlhabenden New Yorker Milieu auf. Ihr russisch stämmiger Vater führte ein Pelzgeschäft beim Central Park. Nähe zu ihren Eltern fand Diane anscheinend kaum. In der Obhut einer Nanny sei sie «isoliert aufgewachsen, ich spürte meine Umgebung wenig», sagte sie dem Autor Studs Terkel, der sie als Erwachsene über ihre Depressionen befragte. Und in einer Biografie der US-amerikanischen «Jüdischen virtuellen Bibliothek» heisst es: «Der Vater steckte in der Arbeit, die Mutter versank in Depressionen.» Kurz: Die kleine Diane fühlte sich in ihrer privilegierten Umgebung vernachlässigt. Mit 13 Jahren fand sie endlich Nähe und verliebte sich in den viel älteren Werber Allan Arbus, mit 18 heiratete sie ihn. Das Paar hatte zwei Töchter.
In den späten Vierzigerjahren machte sich Arbus langsam einen Namen als Modefotografin und betrieb mit ihrem Mann ein Studio. Die beiden waren erfolgreich, geschäftlich wie als Paar, zumindest in den ersten Jahren ihres Zusammenlebens. Arbus’ Verständnis der Modefotografie ist in späteren Bildern wie «Das Mädchen mit Zigarre im Washington Square Park» (kleines Bild rechts) noch deutlich spürbar. Diese junge Frau hat zwar etwas diffus Verwahrlostes, aber sie strahlt auch unverkennbaren Chic aus.
In den späten Fünfzigern trennte sich das Paar. In jener Zeit entdeckte Arbus New Yorks Aussenseiter und Freaks als Fotosujets – Behinderte, Transsexuelle, gesellschaftliche Randexistenzen. Einfach alle, die von der damals geltenden gesellschaftlichen Norm abwichen. Mit ihnen sollte die Fotografin weltberühmt werden. Ihr Ex-Mann erkannte später, dass sie nur dank der Trennung zu einer eigenständigen Künstlerin werden konnte: «Ich wäre entsetzt gewesen und hätte das nicht zugelassen.»
Eine Voyeurin?
Allerdings erhoben Kritiker den Vorwurf, sie sei eine Voyeurin der verwöhnten Oberschicht und missbrauche die Porträtierten als Opfer ihrer künstlerischen Ambitionen. Arbus stellte sich dagegen auf den Standpunkt, dass ihr die fotografierten Menschen vertrauten. Sonst wären sie nicht bereit, sich der Kamera zu stellen, mitunter sogar direkt in die Linse zu schauen. Bleibt die Frage, warum diese Menschen bereit waren, sich in solcher Verletzlichkeit fotografieren zu lassen? Wahrscheinlich, weil sie sich selbst als nicht absonderlich erkannten – sondern als normale Wesen, wie alle andern auch.
In den Sechzigern wandte sich Diane Arbus Fotoreportagen zu. Sie arbeitete für renommierte Magazine wie «Harper’s Bazaar» oder das «Sunday Time Magazine» und fotografierte die damalige Glamour-Prominenz – jedoch kaum Politiker. Man hielt sie als Porträtistin angeblich seriöser Sujets für ungeeignet. Diane Arbus galt als eine unbequeme Person, deren Stimmungen rasch und scheinbar unbegründet schwanken konnten. Depressionen suchten Arbus Zeit ihres Lebens heim; 1971 nahm sie sich das Leben. Ein Jahr später zeigte die Biennale von Venedig ihre Bilder. Sie war dort posthum als erste amerikanische Fotografin vertreten.
Die Kritik von Susan Sontag
Die Fotografien von Diane Arbus fanden nicht überall Anerkennung. Die amerikanische Publizistin Susan Sontag kritisierte Arbus’ Kunst in einem Essay heftig. Denn Sontag erschienen die fotografierten Menschen «entfremdet von allem und jedem, hoffnungslos isoliert, gefangen in verkrüppelten Identitäten». Sontag hielt die Porträtierten für «Opfer»: Diane Arbus habe diese Menschen «dazu verführt, ihre Intimität preiszugeben». Die Kritikerin unterstellte Arbus mangelnde Moral und Überheblichkeit, wie sie Privilegierte gegenüber der Unterschicht immer wieder zur Schau stellten.
Urs Stahel, Kurator der Winterthurer Ausstellung, gesteht Arbus dagegen ein «genuines Interesse an den Menschen» zu. «Ich kann in diesen Fotografien keinen Zynismus erkennen.» Die Künstlerin habe im Gegenteil ein Art Liebe zu diesen Menschen entwickelt.
Laut dem Ausstellungstext der Winterthurer Schau dienen Arbus’ Arbeiten der Selbsterkenntnis des Betrachters: «Ihre Gabe, die uns vertraut erscheinenden Dinge in etwas Fremdes zu verwandeln und das Vertraute im Exotischen aufzudecken, erweitert unser eigenes Selbstverständnis.»
Arbus selbst sah sich als wertfreie Beobachterin. «Ich glaube wirklich, dass es Dinge gibt, die niemand sähe, wenn ich sie nicht fotografieren würde.»