kulturtipp: Eine Definition sagt, fotografieren sei «zeichnen mit Licht». Wie definieren Sie Fotografie?
Pia Zanetti: Die Definition ist ziemlich treffend. Trotz den verschiedenen Arten von Fotografie wie Landschaft, Kunst, Porträt, Architektur oder Essen spielt Licht immer die entscheidende Rolle. Je nach Lichtverhältnis wird eine andere Realität gezeichnet.
Und wie ist das bei der Reportage-Fotografie?
Da ist es auch so. Ich arbeite ausschliesslich mit natürlichem Licht. Aber bei der Fotoreportage ist vor allem der Mensch wichtig. Man muss ihn mögen und ihm nahekommen wollen.
Wie machen Sie das?
Das klingt jetzt banal, aber mit Beobachten, ehrlichem Interesse und Geduld. Und ich gebe immer auch etwas von mir preis. Ich will ja etwas von den Menschen, dann dürfen sie auch etwas von mir bekommen.
Wie konnten Sie etwas von sich preisgeben in all den Ländern mit den unterschiedlichsten Sprachen, in denen Sie unterwegs waren?
Mit Schweizerdeutsch und Gestik (lacht). Nein, ehrlich. Wenn ich jemandem in Usbekistan «rutsch übere» sagte, hat er mich verstanden. Vom Kontext und dem Tonfall der Muttersprache kann man viel verstehen.
Mit 17 Jahren machten Sie Ihre ersten Bilder, das war 120 Jahre nachdem die Fotografie 1839 in Frankreich erfunden wurde. Was bedeutete Fotografie in den 1960er-Jahren für die Gesellschaft?
Die Diskussion, was Fotografie künstlerisch bedeutet, ist bis heute offen. Für mich gilt sie als Kunst, sobald sie im Museum hängt. Sonst ist sie ein Zeitzeugnis. Damals konnte man den Menschen zu Hause mit den Bildern eine Realität aus einer fremden Welt zeigen. Die Neugier war gross, und ein einzelnes Foto hatte mehr Aussagekraft. Mir war deshalb wichtig, einen anderen Aspekt zu zeigen – als Ergänzung zum journalistischen Text etwa. Das ist heute sehr viel schwieriger.
Inwiefern?
Das Bedürfnis nach Bildern ist grösser denn je. Schwierig ist, ebendiesen anderen Aspekt zu zeigen. Als Beispiel: Passiert an einem Ort etwas, dann zücken alle ihr Handy. Augenblicke später sind die Bilder im Netz. Dadurch hat die Masse an Fotos so sehr zugenommen, dass man als Betrachter die Informationen gar nicht mehr verarbeiten kann, die Aussagekraft eines Bildes und die Arbeit des Fotografen an Wert verliert.
Also ist die Digitalisierung schuld?
Schuld nicht, aber sie ist die treibende Kraft der Veränderung. Man muss sich einfach bewusst sein, was das bedeutet. Ein anderes Beispiel: Die Digitalisierung hat quasi die Strassenfotografie zensiert. Früher konnte ich durch die Strassen gehen und einfach den Auslöser drücken. Jetzt muss ich die abgelichteten Personen um Erlaubnis bitten aus Angst, das Foto könnte im Internet landen. Das macht alles komplizierter.
Welchen Vorteil bringt denn die Digitalisierung?
Die Ausrüstung ist nicht mehr so schwer, und ich sitze nicht mehr so auf Nadeln, wenn ich auf Reportage bin. Ich kann am selben Abend meine Fotos auf den Computer laden und muss nicht zwei Wochen warten, bis ich das entwickelte Ergebnis in den Händen halte.
Lernt man heute noch, analog zu fotografieren?
Das Handwerk lernt man nicht mehr gleich wie früher. Aber ja, Fotografinnen realisieren weiterhin analoge Arbeiten. Sie sind einfach nicht mehr üblich in der Praxis.
Inwiefern lernt man das Handwerk heute nicht mehr gleich?
Die Berufslehre gibt es nicht mehr, und das Berufsbild wurde viel intellektueller. Heute studiert man Fotografie nur noch an der Hochschule und macht Praktika. Das ist schade, wenn man Leuten den Zugang verwehrt, die vielleicht in der Schule nicht glänzten, aber enorm Talent hätten.
Früher war also alles besser?
Nein, ganz und gar nicht. Anders, einfacher.
Einfacher? Sie hatten ja als Frau auch einige Unwägbarkeiten zu überwinden.
Als mein Mann und ich nach Rom zogen, war ich 20 und die einzige Fotoreporterin. Ich wollte das Land kennenlernen und war bei Papstbesuchen, Demonstrationen oder Politanlässen vor Ort. Mir war es egal, wenn die Berufskollegen lachten. Ich bin einfach immer wieder aufgetaucht. Als die italienische Presse auch meine Bilder abdruckte, haben sie mich akzeptiert.
Und welche Herausforderungen haben Fotografinnen heute?
Sich in der Masse zu behaupten. Es braucht Wille, eine dicke Haut und die Überzeugung, dass das, was man macht, gut ist. Denn ich glaube, Fotografie, egal welcher Art, wird weiter an Bedeutung gewinnen. Und mit dem wachsenden technologischen Fortschritt werden sich neue Möglichkeiten auftun. Was für ein spannender Beruf!
Nach der Natur – Schweizer Fotografie im 19. Jahrhundert
Sa, 23.10.–So, 30.1., Fotostiftung Schweiz Winterthur ZH
www.fotostiftung.ch
Die Neugierige
Pia Zanetti, 1943 in Basel geboren, absolvierte die Handelsschule, bevor sie das Handwerk der Fotografie bei ihrem 15 Jahre älteren Bruder erlernte. Der schickte die schüchterne 15-Jährige in Basel von Redaktion zu Redaktion, um die Bilder zu verkaufen. So lernte sie ihren Mann, den Journalisten Gerardo Zanetti (gestorben 2000), kennen, mit dem sie unter anderem in Rom und in London lebte. 1971 kehrte das Paar in die Schweiz zurück, um seine drei Kinder grosszuziehen. Pia Zanettis humanistische Fotoreportagen aus Lateinamerika, Afrika, Nah- und Fernost sowie Ost- und Westeuropa erschienen in renommierten Titeln wie «Paris Match», «Du», «Stern», NZZ oder «Das Magazin». Zudem dokumentierte sie für NGOs deren soziales Engagement. Seit 2000 lebt und arbeitet die freischaffende Fotografin in Zürich. Seit 2019 archiviert die 78-Jährige ihre Arbeiten für die Fotostiftung Schweiz und arbeitet für die Plattform fairpicture.org, welche Fotografie aus dem globalen Süden fördert. Für ihr Lebenswerk erhielt sie diesen Sommer den «Lifetime Award» der Swiss Photo Academy.