Kürzlich wurde ich nach Schöntal in der Nähe von Stuttgart eingeladen, um ein Schreibseminar zu leiten. Die zwei Dutzend Teilnehmerinnen und Teilnehmer hatten einen Schreibwettbewerb des Landes Baden-Württemberg gewonnen, bei dem über 600 Jugendliche teilgenommen hatten. Einer Jury zufolge hatten sie also einen hervorragenden Text geschrieben und sollten nun von einem jungen Autor, der seinerseits Schreiben studiert hatte, gezeigt bekommen, wie sie noch bessere Texte schreiben könnten.
Doch ist das überhaupt das Ziel des Schreibens, gute oder gar immer bessere Texte zu schreiben? Und was soll das überhaupt sein, so was wie ein guter Text?
Ein guter Text sei gut geschrieben und habe einen guten Rhythmus, meinte ein Teilnehmer – wohl ganz zu Recht. Soll das für den Schreibenden nun aber heissen, dass er stets darauf achten soll, einen guten Rhythmus einzuhalten und vor allem gut zu schreiben?
Meine Schwester hat in der ersten Klasse ein Gedicht geschrieben. Es war lange mein Lieblingsgedicht, da es das einzige Gedicht war, das ich auswendig aufsagen konnte – oder umgekehrt. Es war für eine siebenjährige Autorin nicht nur gut, sondern sogar sehr gut geschrieben. Und es hatte einen guten, dem Inhalt kohärenten Rhythmus. Trotzdem war es kein gutes Gedicht.
Die meisten Menschen haben ein Gespür dafür, was ein guter literarischer Text ist. Intuitiv wissen wir schnell, ob das, was wir lesen, von Qualität ist, ob es Tiefe hat oder nicht – doch wenn wir unser Urteil an Kriterien festmachen müssen, kommen wir ins Zaudern. Warum soll es also sinnvoll sein, Schreibseminare zu halten, beziehungsweise ganze Schreibschulen einzurichten, in denen man Literarisches Schreiben studieren kann?
Natürlich gibt es so was wie ein Handwerk des Schreibens. Nicht zuletzt muss der Schreibende wissen, wie man einen Stift in der Hand hält oder wie man einen Computer bedient. Zudem gibt es gewisse Regeln, ohne die jegliches Schreiben obsolet wäre – dass zum Beispiel ein A ein A ist, dass das Wort Tisch eine gewisse Bedeutung hat und so weiter. Nur beginnt bereits da, bei den grundlegendsten Regeln der Grammatik und der Syntax, das Aktionsfeld der Literatur. So verliert das Wort Tisch bei Peter Bichsels Erzählung «Ein Tisch ist ein Tisch» seine Bedeutung und wird eines Morgens zum Teppich. Und genauso können Gedichte mit allerlei – gewollten oder ungewollten – Rechtschreibfehlern hervorragende Gedichte sein. Wenn es demnach also nicht einmal die Rechtschreibung gibt, die man nun bitte doch bei jedem Text einhalten sollte, wie sollte ich den Seminarteilehmern erst Tipps geben können, wie eine gute Dramaturgie, eine gute Figur, ein guter Textanfang, ein guter Text entsteht?
Die Kritiker und Kritikerinnen der Literaturinstitute beanstanden also ganz zu Recht, dass es in der Literatur und in der Kunst im Allgemeinen genau um das Gegenteil dessen geht, als man denkt, was man in einer Schule so macht. Beginnt doch die Literatur genau da, wo die Regeln und das gemeinhin Gültige aufhören, und etwas Neues, Unbekanntes anfängt. Es ist also fast unmöglich, jemandem in einem Seminar konkrete Anhaltspunkte zu geben, wie ein guter Text auszusehen hat.
Trotzdem ist nie jemals wer ein guter Schriftsteller geworden, der nicht jahrelang Schreiben studiert hat. Ob das Studium zu Hause auf einem Stuhl, auf einem Teppich sitzend, spazierend, in einem öffentlich subventionierten Haus in Biel, in einer Dachwohnung oder im Schützengraben liegend stattfindet, spielt dabei nur eine nebensächliche Rolle.
Schreiben zu lernen, heisst das Eigentliche zu suchen, heisst zu versuchen, sich selbst zu sein. Denn nur aus dem wirklich Eigenen kann etwas Neues entstehen, kann sich ein Text da hinbewegen, wo die Kunst zu Hause ist. Nur wenn das, was einen selbst ausmacht, was einen quält und berührt, zum Sprechen kommt, kann ein Text da hingelangen, wo noch kein anderer Text je gewesen ist. Nur wenn man es wagt, das Eigene sprechen zu lassen, kann ein eigensinniger Text entstehen, ein Text, der mehr ist als eine ausgetüftelte Gleichung, die man letztendlich auflösen kann. Nur wer nichts will und alles zulässt, kann einen Text schreiben, der wie ein sonderbarer Himmelskörper in einem Universum kreist, das auch für den Autor selbst unendlich weit und undurchsichtig ist. Nur wer sich als Schreibenden zurücknimmt und nicht zeigen will, wie gut er schreiben kann, ja nicht mal zum Ziel hat, einen guten Text zu schreiben, hat die Chance, dass der Text echt, und schliesslich eben doch: gut wird. Nur wer im tiefen Teich das Eigentliche sucht, statt abenteuerlichen Einfällen und Erwartungen nachzurennen, kann, wie David Lynch es nennt, den grossen Fisch fangen. Nur wer sich eine Blösse gibt, wer sich selbst aufs Spiel setzt, hat die Chance, auf Wahrheit zu stossen. Nur wer wirklich darüber schreibt, worüber er – in dieser und keiner anderen Form – schreiben muss, wer in Kauf nimmt, dabei zu scheitern und im Sumpf steckenzubleiben, kann einen Text schreiben, der einem wirklich nahegeht.
Egal, ob man Schreibseminare besuche oder nicht, man müsse viel lesen und sehr viel schreiben, wenn man gut schreiben wolle – das gab ich den Seminarteilnehmern in Schöntal dann doch als Tipp auf den Weg. Daneben könne man meditieren, man könne spazieren oder joggen gehen, Drogen nehmen, sich verlieben, anderer Arbeit nachgehen, sich mit Freunden betrinken, Musik hören oder überhaupt alles machen, was man wolle – Hauptsache, man bleibe auf der Suche nach dem, was einen wirklich ausmache.
Flurin Jecker
Flurin Jecker ist 1990 in Bern geboren, hat Biologie studiert und 2016 das Schweizerische Literaturinstitut in Biel abgeschlossen. Jecker arbeitet als freischaffender Journalist und als Velokurier. Kürzlich ist sein viel gelobter Debütroman «Lanz» erschienen, in dem er aus der Sicht eines 14-Jährigen erzählt.
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