«Namen statt Nummern» lautet der Titel von Cristina Cattaneos neuem Buch und bringt damit ihr Herzensanliegen auf den Punkt. Die Mailänder Rechtsmedizinerin will den Menschen, die auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken sind, eine Geschichte, eine Identität geben. Die Forensikerin hat zwei Schiffstragödien untersucht: 2013 kenterte ein alter Fischkutter aus Libyen kurz vor der italienischen Insel Lampedusa. 366 Menschen ertranken. 2015 ging zwischen Libyen und Sizilien ein überfülltes Schiff unter – es gab bis zu 900 Todesopfer. Die Angehörigen konnten keinen Abschied nehmen, nicht trauern, weil sie über den Verbleib ihrer Liebsten im Ungewissen blieben.
Ein Säckchen Erde als Andenken an die Heimat
«Cristina Cattaneos Verdienst besteht nicht nur darin, den Toten eine Würde zu geben. Sie hilft vor allem auch den Lebenden», schreibt Journalist Sacha Batthyany im Vorwort zum Buch. Denn die Rechtsmedizinerin seziert Gewebe, analysiert Knochensplitter, untersucht DNA und Fundgegenstände, vergleicht sie mit Datenbanken. So schliesst sie aus einem Handschuh, einem Bibliotheksausweis, aus Fotos und Kinderzeichnungen, aus der Hülle eines Schokoladentörtchens oder aus einem vom Salzwasser angegriffenen Handy auf die Herkunft. In der Hosentasche eines Ertrunkenen fand sich etwa ein koptisches Kreuz, das auf die Heimat Eritrea oder Äthiopien hindeutet. Wie viele andere hatte der Jugendliche auch ein wasserfest verpacktes Säckchen Erde bei sich – ein Andenken an die Heimat. Die Pathologin spricht zudem mit den Müttern, Vätern, Geschwistern, die ihre Angehörigen verloren haben, und vergleicht ihre Angaben mit den gesammelten Daten.
Unermüdlicher Einsatz für die Menschenrechte
Eine belastende Aufgabe, die ihr aber auch viel Erfüllung gibt: «Es sind niederschmetternde Momente, aber diese Arbeit hat für mich eine sinnvolle Perspektive», sagte Cattaneo in einem Interview mit SRF. In ihrem Buch beschreibt die Norditalienerin in ruhiger, klarer Sprache präzise ihre Arbeit. Und sie erzählt mit Empathie für die Opfer, die sie identifiziert, und für die Menschen, die trauernd zurückbleiben. 38 Menschen konnte sie bereits ausfindig machen, und bei 98 weiteren ist sie nahe dran. «Es klingt nach nichts. Ein Tropfen im Meer. Es bedeutet alles», schreibt Batthyany.
Cattaneos Hartnäckigkeit und ihrem unermüdlichen Einsatz für die Menschenrechte ist es zu verdanken, dass die Opfer der Schiffsunglücke nicht vergessen gehen. Denn im Gegensatz zur Identifizierung bei Flugzeugabstürzen oder anderen Katastrophen ist die Unterstützung bei Flüchtlingstragödien meist gering. Die Welt hat sich an die Toten im Mittelmeer gewöhnt. Menschen wie Cattaneo wirken dieser Gleichgültigkeit entgegen.
Der schonungslose Bericht von Jean Ziegler
Auch der 86-jährige Genfer Globalisierungskritiker und Autor Jean Ziegler ist ein Kämpfer für die Menschenrechte: Er hat im Mai 2019 das Flüchtlingslager Moria auf Lesbos besucht. In seinem neuen Buch «Die Schande Europas» schildert er seine Begegnungen mit den Frauen, Männern und Kindern aus 58 Ländern in den heillos überfüllten «Auffanglagern», die ihn nachhaltig erschüttert haben. Er erzählt von den prekären hygienischen Bedingungen hinter den mit Stacheldraht umsäumten Mauern, wo es an Nahrung, sauberem Wasser, ärztlicher Betreuung und Heizung fehlt. Und er berichtet von der brutalen «Jagd auf Flüchtlinge», die von der europäischen Grenz- und Küstenwache Frontex oder von der EU-finanzierten griechischen und türkischen Küstenwache durchgeführt wird. Aber auch vom mutigen Eingreifen der humanitären Organisationen und Aktivisten. In seinem schonungslosen Bericht prangert Jean Ziegler die europäische Gesellschaft und Politik an, die Menschenrechte mit Füssen tritt und einzig darauf bedacht ist, die Migranten vor der Einreise nach Europa abzuschrecken.
Während der Corona-Krise spitzt sich die Lage weiter zu: Schutz vor einer Ansteckung ist etwa in Moria unmöglich. Dort leben 22 000 Menschen in einer ursprünglich für 3000 Menschen gebauten Kaserne und angrenzenden Zelten. Eine Ausbreitung des Virus in den Lagern hätte katastrophale Folgen. In der Schweiz sammeln Künstlerinnen und Künstler mit verschiedenen Aktionen für Hilfsorganisationen vor Ort – und setzen damit ein kleines Zeichen der Hoffnung.
Aktionen von Autorinnen und Künstlern für Menschen auf der Flucht
Literatur für das, was passiert
Ob Gedichte, Geschichten, Liebesbriefe, Manifeste oder Porträts: Das von Julia Weber und Gianna Molinari gegründete Autoren-Kollektiv «Literatur für das, was passiert» liefert Texte oder auch Illustrationen auf Auftrag. Da die Aktionen im öffentlichen Raum zurzeit wegfallen, verschicken sie die Texte und Zeichnungen neuerdings per Post. Mit dabei sind auch Ruth Schweikert, Simone Lappert, Simon Chen, Katja Brunner und viele andere. Der gesamte Erlös geht an Organisationen für Menschen auf der Flucht, die vor Ort tätig sind, medizinische Hilfe leisten, Nahrungsmittel sowie Kleidung verteilen und die Menschen bei der Weiterreise finanziell und rechtlich unterstützen. Aktuell geht der Erlös an Glocal Roots und One Happy Family. Bisher seien per Post etwa ein Brief an ein Neugeborenes, Texte gegen die Isolation oder ein explizit pathetischer Text bestellt worden, sagt Mit-Gründerin Gianna Molinari, die sich auf weitere Aufträge freut.
Textaufträge an:
zuerich@literaturfuerdaswaspassiert.ch
www.literaturfuerdaswaspassiert.ch !
Literatur per Post
«Herz und Kohle»-Versteigerung mit Miller’s Zürich
Über 30 Slam Poetinnen, Komiker, Musiker oder Schauspielerinnen sammeln in einer täglichen Online-Auktion auf Facebook für die Organisation Médecines sans Frontières Griechenland. Jeden Abend versteigern Kulturschaffende per Videobotschaft auf Facebook Unikate – mit einem Augenzwinkern aus dem Miller’s, moderiert von Andrea Fischer Schulthess, Tamara Cantieni und Rebekka Lindauer. So versteigert etwa Komiker Beat Schlatter sein neues Postkarten-Buch, Schauspieler Walter Andreas Müller die neuste handsignierte «Globi»-CD, und Kolumnistin Kafi Freitag bietet ihr aktuelles Buch inklusive einer persönlichen Wohnzimmer-Lesung an. Besonders gut sei bisher Patti Baslers Angebot angekommen, sagt Mitinitiantin Schulthess. Die Kabarettistin schreibt für den Meistbietenden einen eigenen Song und dreht einen persönlichen Film. Nach einem Drittel der Auktionen sind bereits
6500 Franken zusammengekommen – das Ziel liegt bei mindestens 10 000 Franken.
Bis Fr, 8.5., täglich zwischen 19.00 und 21.00 auf Facebook: www.facebook.com/millerstheater
Infos unter: www.millers.ch oder www.herzundkohle.ch
Buch
Jean Ziegler
Die Schande
Europas – Von Flüchtlingen und Menschenrechten
144 Seiten
(Bertelsmann 2020)
Buch
Cristina Cattaneo
Namen statt Nummern – Auf der Suche nach den
Opfern des Mittelmeeres. 208 Seiten
(Rotpunkt 2020)