Sie leben im slowenischen Tomaj oder in Zürich, im japanischen Nagoya oder in Graz. Katica, Steve, Maurice, Lou und wie sie alle heissen sind die Protagonisten in Ilma Rakusas neuem Erzählband – allesamt Unbehauste, die sich in flüchtigen Beziehungen zu andern Menschen ein Stückchen Beständigkeit, ein kurzes Aufatmen vom Wirbel der Welt erhoffen. Es sind «aus der Welt gefallene», wie etwa der scheue, innerlich glühende Maurice, mit dem die 15-jährige Ich-Erzählerin in den Ferien ein kurzes Liebesglück erlebt. Nach der überstürzten Abreise seiner Familie sehnt sie sich noch lange nach seinen nach Veilchen schmeckenden Küssen. Erst viele Jahre später erfährt sie, was aus ihm geworden ist – und von seiner tatenlos verglühten Leidenschaft.
Qualvolle Erinnerungen
Auf andere Weise unbehaust fühlt sich der von einem Kriegstrauma versehrte Misi, der sich nach dem Krieg in der ägyptischen Wüste für ein Leben am Meer entschieden hat – «Wasser kühlt. Wasser besänftigt. Es ist das Gegenteil jener Gluthölle namens Wüste.» Und dennoch wird er von qualvollen Erinnerungen heimgesucht. Die Bemühungen seiner Geliebten, ihn aus seiner Hoffnungslosigkeit und Einsamkeit herauszuholen, verpuffen. «Vom Bleiben verstand er nichts, nur vom Reisen und Weiterziehen», sagt sie über ihn.
Motiv der Einsamkeit
Und so ergeht es den meisten Protagonisten in Ilma Rakusas Erzählband. Meist lassen sie beim Weiterziehen eine geliebte Person zurück, die ihnen für kurze Zeit etwas Schutz und Halt geben konnte. Auch in den Begegnungen mit anderen bleiben sie meist einsam und auf sich selbst zurückgeworfen.
In kurzen Impressionen leuchtet Ilma Rakusa unterschiedliche Menschenleben aus, variiert das Motiv der Einsamkeit in lyrischer Sprache. Ihre 14 Erzählungen betitelt sie mit dem Vornamen oder dem vorübergehenden Aufenthaltsort ihrer Figuren – jeder Name und jede Stadt steht für ein Schicksal.
Mit viel Einfühlungsvermögen und mit grosser Zärtlichkeit erzählt Rakusa von ihren Rastlosen, Heimatsuchenden, Verlorenen, die oft in der Vergangenheit gefangen sind. Das Gefühl der Heimatlosigkeit kennt die 68-jährige Schriftstellerin aus eigener Erfahrung: In ihren Erinnerungspassagen «Mehr Meer», für die sie 2009 den Schweizer Buchpreis erhielt, lässt sie die Leser daran teilhaben. Ein «Unterwegskind» nennt sich die Tochter eines slowenischen Chemikers und einer ungarischen Apothekerin. Nach ihrer Geburt in der Slowakei zog es die Familie nach Budapest, Ljubljana, Triest und 1951 nach Zürich. Studiert hat sie in Paris, St. Petersburg und Zürich, wo sie noch heute lebt – allerdings immer wieder mit langen Auslandsaufenthalten dazwischen. Denn das Verlangen nach Aufbruch, das all ihre Protagonisten prägt, ist auch in der Autorin und Übersetzerin tief verwurzelt.
Heimat in der Dichtung
Trotz jahrzehntelanger Beziehung zu Zürich fällt die Erzählung über ihren Wohnort im neuen Band vergleichsweise nüchtern aus. An den Namen der Gaststätten – von «Akropolis» bis «Zum Grobe Ernst» – misst sie die multikulturelle Limmatstadt und erzählt von Fred und Assja, von Mario und Esther, die hier meist nicht so recht heimisch wurden. Und auch die Schriftstellerin selbst findet ihre eigentliche Heimat wohl am ehesten in der Dichtung: «Dichtung ist eine Parallelwelt. Und sie schafft das Paradox, mein Fremdsein so umzuwandeln, dass es heimisch wird», schreibt sie.
Lesung
Mi, 7.5., 19.30 Literaturhaus Zürich
Moderation: Manfred Papst
Ilma Rakusa
«Einsamkeit mit rollendem ‹r›»
160 Seiten
(Droschl 2014).