In der Zeitung las ich den Namen Martin Assig. Vor 35 Jahren sprachen Kunststudenten, mit denen ich damals verkehrte, manchmal von einem Assig; der Assig tut dies, der Assig tut das … Ein angehender Maler wie sie, der aber, im Unterschied zu ihnen, bereits einen Galeristen hatte. Als ich den Namen nun plötzlich wieder las – es war ein Inserat für eine Ausstellung –, erwachte meine Neugier; ich wollte wissen, wer er ist und wie er malt. Also fuhr ich an den südlichen Stadtrand, wo in einer Villa an einem grossen, dunklen Teich zurzeit seine neuesten Arbeiten unter dem Titel Glückhaben gezeigt werden. Ich hatte vor, die Ausstellung schlecht zu finden, weil ich mir einbilde, Assig habe meinen damaligen Freunden im Licht gestanden und sich allzu gefügig dem Betrieb angedient.
Die Villa liegt in einem parkartigen Garten. Man schreitet von einer sechsspurigen Ausfallstrasse durch ein Tor und dann zwischen Rasenflächen über einen gekiesten Weg zum Eingang. Bereits im Entree hängt eine erste Serie von Bildern. Alle im gleichen Format, unaufgeregt, weiss gerahmt, akkurat neben- und übereinander. Bunte, warme Farben, wie sie ein allein gelassenes Kind verwendet, das ganz bei sich ist, ernst, mit der Zungenspitze zwischen den Lippen. Im nächsten Raum zwei weitere Serien, wieder akkurat neben- und übereinander gehängt. Die Farben strahlen dieselbe Ruhe, Wärme, Sanftheit und Heiterkeit aus – und schwimmen dabei über einer Tiefe, bis auf deren Grund man nicht zu sehen vermag. Egal, wie nahe man an die Bilder herantritt, man erkennt nicht, wo sie anfangen und wo sie aufhören. Auch im grossen Saal, der zum Garten hin offen daliegt – mit einer Terrasse davor und einer Freitreppe, die zum Teich hinunterführt –, hängen die Wände voll: verschiedenartigste Muster, Reihungen, ornamentale Zeichen, ungelenke Figuren dazwischen, Strichmännchen, Gesichter, oft Wörter, manchmal kurze Sätze, alles in diesen seltsam bodenlosen Farben. Der ganze Saal pulsiert. Es war, als hätte ich ein fieberndes zweijähriges Mädchen in den Armen getragen, das mich, weil es nicht verstand, was mit ihm geschieht, eben noch verzweifelt angeschaut und von mir erwartet hatte, ich könne ihm helfen, das nun – nachdem seine kleine, heisse Hand meine Nase ein letztes Mal berührt hatte wie ein Pinsel – plötzlich zur Ruhe gekommen und in einen erholsamen Schlaf gesunken sei. Befreit atmete ich auf, trat noch näher an die Bilder heran und wieder von ihnen weg, wie eine Welle ans Ufer und zurück, um herauszufinden, was das für Farben und wie sie aufgetragen waren; Wasser, Öl, Kreide, Buntstifte, mit Wachs vermischt, auf Fettpapier zerrieben? Jedes Bild eröffnet dem Blick dieselbe samtene Tiefe, die keine Angst macht, sondern geheimnisvoll lockt, als ziehe darunter der Golfstrom vorüber. Am liebsten hätte ich sie alle abgehängt und mitgenommen.
In der Villa gibt es einen Tearoom, der von einem normannischen Patissier beliefert wird. Ein Freund, ein Flugkapitän, der auf der anderen Seite des Teichs wohnt, sagt, der Patissier stelle die beste Himbeertarte von ganz Berlin her. Ich bestellte eine; sie war fabelhaft. Nach Hause gehen wollte ich auf gar keinen Fall, weil dort ein dickes Buch lag, das darauf bestand, gelesen zu werden.
Also studierte ich das Filmprogramm in der Zeitung, überlegte, welches Kino von hier aus am besten zu erreichen war, und schaute, welche Anfangszeiten passten. Ein einziger Film war möglich. Er spielte laut Kurzbeschreibung im amerikanischen Ringermilieu. Ich ächzte bei der Vorstellung, nun zwei Stunden lang in einem solchen Milieu verbringen zu müssen, doch alles war besser als das dicke Buch, das zu Hause lauerte. Ich fuhr quer durch die Stadt zum Kino. Die Reklamen und Vorfilme, die gezeigt wurden, waren empörend laut und dumm. Ich riss Fetzen aus einem Tempotaschentuch, formte daraus Kügelchen und stopfte sie mir in die Ohren. Endlich begann der Film, ganz leise, in einer dämmrigen, ländlichen Turnhalle, wo zwei Männer einander abtasteten, umschlangen, knufften, schoben, zwei junge Bären, tapsig, mit zu viel Kraft, man wusste nicht, ob sie einander umarmten oder miteinander kämpften. Plötzlich lief dem älteren der beiden Blut aus der Nase, weil der jüngere zu brüsk mit dem Kopf hochgeschnellt war, doch er wischte es bloss mit dem Ärmel weg, ohne Klage, legte seinen Arm wieder um den Nacken des jüngeren, streichelte ihn, würgte ihn, schwang ihn hin und her.
Dann trat ein märchenhaft reicher Mann in die Halle. Er sah in der Dämmerung aus wie aus Stearin und sprach auch so. Er erklärte, er habe vor, aus dem jüngeren der beiden Bären einen Ringweltmeister zu formen, und sie müssten ihm nun folgen. Hypnotisiert taten sie das. Er führte sie auf sein Schloss. Von Szene zu Szene wurde es unheimlicher. Die Tempokügelchen hatte ich längst aus den Ohren geklaubt und sass gebannt in meinem Sessel. Eine unüberwindbare Macht schob und zog die drei auf einen Abgrund zu, von dem man als Zuschauer nicht ahnen konnte, wie er aussehen würde. Keiner vermochte das Geschehen in eine andere Richtung zu wenden, sie waren unlösbar ineinander verknotet. Der Ton und die Bilder blieben verhalten, unterkühlt, doch das Grauen wuchs und wuchs.
Das Ende des Films war erschütternd traurig. Betäubt verliess ich das Kino, setzte mich nebenan in eine Kneipe und trank Bier.
Glückhaben kann man noch bis zum 17. Mai im Haus am Waldsee in Berlin sehen und dann noch einmal vom 6. Februar bis 29. Mai 2016 in Rotterdam im Museum Boijmans Van Beuningen.
Der Titel des Films ist Foxcatcher.
Matthias Zschokke
Der 60-jährige Berner Schrift-steller und Filmemacher ist mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet worden. Er lebt seit 1980 in Berlin, das in seinen Werken wiederholt Thema ist oder als Hintergrund präsent. In den vergangenen 30 Jahren hat Matthias Zschokke drei Filme, acht Theaterstücke und zwölf Prosabände vorgelegt. In seinem jüngsten Buch «Die strengen Frauen von Rosa Salva» (Wallstein 2014) berichtet er von seinen Erlebnissen in Venedig.