Florian Illies - Panorama einer fast  verlorenen Zeit
Wie war die Welt vor 100 Jahren? Florian Illies gelingt mit seiner Jahreschronik «1913 – Der Sommer des Jahrhunderts» ein packendes und aufrüttelndes Zeitengemälde.
Inhalt
Kulturtipp 25/2012
Frank von Niederhäusern
Der Sommer 1913 war miserabel. Wenigstens für die europäische Intelligenzia, die sich damals zwischen Wien, Berlin und Paris bewegte. Der Juli wurde in Berlin kaum über elf Grad warm, weshalb – wers sich leisten konnte – gen Süden floh. Kultdichter Rainer Maria Rilke etwa liess sich von reichen Verehrerinnen warme Monate in Spanien und Venedig finanzieren. Nach Venedig reisten auch Verleger Samuel Fischer und Architekt Adolf Loos sowie die Autoren Karl Kraus un...
Der Sommer 1913 war miserabel. Wenigstens für die europäische Intelligenzia, die sich damals zwischen Wien, Berlin und Paris bewegte. Der Juli wurde in Berlin kaum über elf Grad warm, weshalb – wers sich leisten konnte – gen Süden floh. Kultdichter Rainer Maria Rilke etwa liess sich von reichen Verehrerinnen warme Monate in Spanien und Venedig finanzieren. Nach Venedig reisten auch Verleger Samuel Fischer und Architekt Adolf Loos sowie die Autoren Karl Kraus und Arthur Schnitzler. Selbst Georg Trakl, der einzelgängerische, stets liebes- und drogenkranke Wiener Poet, wagte sich auf den Lido, fühlte sich dort aber höchst unwohl.
Als wärens launige Postkartengrüsse, lässt Florian Illies Befindlichkeiten wie jene Trakls in Venedig oder Rilkes in Spanien einfliessen in seine Chronik. Der Zeitgeist-Spezialist, der vor 12 Jahren seine Altersgenossen im Bestseller «Generation Golf» pointiert porträtierte, hat das Abenteuer gewagt, einer Zeit den Puls zu fühlen, die er höchstens aus Erzählungen seiner Grosseltern kennt.
Doch er schreibt sich mit Verve zurück ins Jahr 1913. «Die Angst, dass sich 1913 als Unglücksjahr erweisen könnte, sitzt den Zeitgenossen im Nacken», weiss Illies schon auf den ersten Seiten und führt Beispiele an vom Schriftsteller Gabriele D’Annunzio bis hin zum Komponisten Arnold Schönberg. Dieser habe die Zwölf-Ton-Musik «aus dem Schrecken vor dem, was danach kommen würde» erfunden. Eine augenzwinkernde These, von denen es wimmelt in diesem Buch, das sich gerade deshalb so leicht liest wie eine Illustrierte mit verbleichten Bildern.
Formal kommt «1913» als Journal in 12 Monats-Kapiteln daher. Innerhalb dieses groben Rasters collagiert Illies Fakten und Zitate, Porträts und Kurzreportagen, die er zum engmaschigen Beziehungsgeflecht des intellektuell-kreativen Europa samt Auslegern nach Nordamerika knüpft. So erfährt man von Sigmund Freud, der in Wien an einem Essay über den Vatermord schreibt und nebenbei den Bruch mit seinem abtrünnigen Zürcher Schüler C.G. Jung vorbereitet. Man liest den penibel eingehaltenen Tagesplan Thomas Manns, der 1913 in München seine erste Villa baut. In genüsslicher Opulenz erzählt Illies die Liebesgeschichten von Komponistenwitwe Alma Mahler und Maler Oskar Kokoschka, von Dichter-Arzt Gottfried Benn und Hippiepoetin Else Lasker-Schüler sowie die Fernbeziehung von Franz Kafka in Prag mit Felice Bauer in Berlin. Er berichtet von einer Fast-Begegnung Stalins und Hitlers in Wien und schildert den Hauskrach innerhalb der Künstlervereinigung Berliner Secession, detailliert wie ein Augenzeuge.
Zerfall der Alten Zeit
Der Kunst kommt eine Hauptrolle zu in diesem pulsierenden Panoptikum. «Überall drängt 1913 die Kunst voran in die Abstraktion», beobachtet Kunsthistoriker Illies im Februar. Anhand des Futurismus in Italien, des kriselnden Expressionismus in Deutschland oder Marcel Duchamps erstem Ready-Made in Paris zeigt er Tendenzen auf, die auf einen globalen Zerfall der Alten Zeit hinweisen.
Deshalb erklärt Florian Illies das Jahr 1913 zum Sommer des noch jungen Jahrhunderts, auf den ein langer, eisiger Winter folgen sollte. Er erzählt von einer fast verlorenen Zeit, und dies auf höchst unterhaltsame Weise.
Florian Illies
Geboren 1971 in Hessen, hat Florian Illies Kunstgeschichte in Bonn und Oxford studiert. Mit 26 wurde er Feuilletonredaktor der «Frankfurter Allgemeinen Zeitung». 2004 war er Mitgründer der Kulturzeitschrift «Monopol». Heute ist er Partner des Auktionshauses Villa Grisebach in Berlin. Bekannt wurde Illies durch seinen Zeitgeist-Bestseller «Generation Golf» (2000).
Was 1913 auch noch geschah
Florian Illies zeichnet in «1913» nicht nur ein Panorama des Geisteslebens, er bringt auch die Alltagsgeschichte ein. Einige Beispiele:
- Berlin wird zu hell, die Sternwarte deshalb nach Babelsberg verlegt
- Die synthetische Droge Ecstasy wird erfunden
- In Essen öffnet Mutter Albrecht den ersten Aldi-Supermarkt
- Die «Mona Lisa» wird aus dem Louvre gestohlen
- In Berlin gibt es über 200 Kinos
- Neuer Temperaturrekord: Im Death Valley misst man 56,7 Grad
- Prada eröffnet das erste Ladenlokal in Mailand
- Die beliebtesten Vornamen in Deutschland sind Gertrud und Karl
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Florian Illies
«1913 – Der
Sommer des
Jahrhunderts»
310 Seiten
(S. Fischer 2012).
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