«Der ostfinnische Wald ist gross. Die Dörfer liegen weit auseinander.» Dutzende von Kilometern liegen zwischen den Siedlungen und einzelnen Häusern, den «verloren gegangenen». Einmal im Jahr «kommen die Bewohner der fünf weit auseinanderliegenden Dörfer, mehrerer Einzelhöfe und einiger Sommerhäuser am stillen, von uralten Bäumen und ebenso geheimnisvollen Geschichten umstandenen Elfensee im Blockhaus der Jagdgesellschaft zu einer Fischsuppe zusammen». An einem magischen Ort, wo sich der Zauber des Erzählens ausbreitet. Ihr Sommerfest nennen die Menschen «Rantakala»: «Ranta, der Strand. Kala, der Fisch.»
Hechte, Bären, Füchse
Der Roman porträtiert die Menschen, die hier zusammen feiern. Und er erzählt die Geschichten, die sie zum Besten geben. Zum Beispiel die von Sammeli: Ihm, Sammeli, legten seine Kameraden Handschellen an, «als er nicht aufhörte, bei der Länge der gefangenen Fische masslos zu übertreiben. Sammeli kreuzte die Hände, spreizte die Finger so weit als möglich auseinander: ‹So gross war der Abstand zwischen den Augen meines Hechts.›» Heiteres, Amüsantes, richtige Lachgeschichten kommen zur Sprache. Aber nicht nur.
Unter den Menschen ist etwa Jussi, pensionierter Taxifahrer, Jäger und begnadeter Erzähler. «Seine Geschichten bevölkern Elche, Waschbären, Füchse, der Vielfrass, der eine oder andere Wolf und seit es keinen Eisernen Vorhang mehr gibt, immer wieder der Braunbär, von dem nach einer Sage die finnougrischen Völker abstammen.» Mit in die Runde gehören auch der Waldbauer Tapio mit Frau Aino, Ainos Vetter Jukka, renommierter Musikwissenschaftler oder die in die Jahre gekommene Sängerin Raili.
Und Allzumenschliches
Einer weiss: «Unsere Sprache macht uns zu einem Volk von Onomatopoeten.» Die Vogelnamen allein belegen diesen Satz: Kuikka («Prachttaucher mit dem zweifelsohne schönsten Gefieder aller Wasservögel»), die im Finnischen Räkättirastas heissende Wacholderdrossel oder die Nachtigall: Hier oben nennt man sie Satakieli, «der Vogel mit den hundert Zungen». Von ihr vernimmt man «das elegische Trauern um einen Sommer und das unablässige Näherkommen des Herbstes und des Winters». Zoologisches bekommt man erzählt, Botanisches, Historisches, Politisches und Allzumenschliches.
Autor Heinz Stalder lehnt sich in seinem Geschichten-Roman an die «Kalevala» an, das finnische Nationalepos aus dem 19. Jahrhundert. «Bärenlieder» ist ein heutiges Lesevergnügen. Ein Buch mit idyllischem Grundton, wo gleichzeitig ein Bedauern aufscheint darüber, dass diese Welt nicht mehr lange dauern kann. Es sind Erzählstoffe, die genährt sind aus nächster Anschauung durch den Autor: Heinz Stalder (77), im luzernischen Kriens zu Hause, lebt einen schönen Teil des Jahres hoch droben in den ostfinnischen Wäldern. Es ist, als sitze er jeweils selber in der Erzähl- und Zuhör-Runde beim sommerlichen Suppenschmaus.
Heinz Stalder
Bärenlieder
253 Seiten
(Pro Libro 2016).