Die mundartliche «Unrueh» des Titels ist eine Spiralfederkonstruktion, das mechanische Herz einer Uhr. Dazu braucht es die Akribie bei der Herstellung, die vornehmlich in den Händen von Frauen liegt. Unruhe gabs aber auch im gesellschaftlich-politischen Sinn: Es regen sich lokale gewerkschaftliche Anhänger des Anarchismus im Schwei- zer Jura der 1870er-Jahre im Uhrenindustrie-Ort Saint-Imier.
Auch die internationale Anarchismus- Bewegung hat hier schon getagt. «Unrueh» zeigt die Kontraste: Anarchismus gegen Nationalismus. Das Fabrikkader initiiert etwa eine Nachstellung der Schlacht von Murten und organisiert eine Tombola. Hauptpreis: ein Repetiergewehr.
Die Anarchisten inszenieren die Pariser Kommune nach, als Preise ihrer Tombola winken Fotografien und Wecker. Hier die alte Schweizer Nationalhymne, dort das Arbeiterlied «L’ouvrier n’a pas de patrie».
Die Kamera bewegt sich grundsätzlich nicht
Historisch verbürgt ist, wie in jener Zeit der Russe Pjotr Kropotkin (1842–1921) nach Saint- Imier kommt. Er besucht das Jura- Tal, um als Kartograf die Gegend zu vermessen. Dabei begegnet der adlige Fremde der anarchistischen Bewegung, für die er sich begeistert. Per Telegrafen- Depesche lässt er die Welt davon wissen. Der 1984 in Zürich geborene Cyril Schäublin hat für «Unrueh » eine besondere formale Gestaltung gewählt: Die Kamera (Silvan Hillmann) bewegt sich grundsätzlich nicht.
Nur ganz zum Schluss ist ein einziger Schwenk zu beobachten. Die Bilder sind fixe Einstellungen, Grossaufnahmen wechseln zu Totalen. In solchen Tableaus, wie auf einer Bühne, bewegen sich die Menschen, manchmal weit im Hintergrund oder angeschnitten am Bildrand. Auf der Schauspielebene setzt der Film vollständig auf Laien. Der Film verzichtet gänzlich auf Musik. Man hört statt- dessen Wind und Wasser, mal einen Specht. Ansonsten herrscht viel Ruhe. Höflich, aber bestimmt gehen etwa die Vorgesetzten in der Uhrenfabrik mit ihren Untergebenen um, deren Arbeitseffizienz sie mit der Stoppuhr messen. Wer allerdings politisch auf der «falschen» Seite steht, muss mit der Kündigung rechnen.
Die Fabrikarbeiterinnen und die Gewerkschaften
Für den Film inspirieren liess sich Schäublin von seiner Grossmutter und den vielen Frauen aus der Verwandtschaft, die im 19. und 20. Jahrhundert in der Uhrenindustrie arbeiteten. Schäublin wollte «einen Film machen über ihre Arbeit und die Zeit, die sie in den Fabriken verbracht hatten ». Zudem wollte er «auch der anarchistisch geprägten Uhrmacher- Gewerkschaftsbewegung des 19. Jahrhunderts Aufmerksamkeit schenken». Er zeigt, was technischer und gesellschaftlicher Wandel mit den Menschen macht.
Nach dem ausgezeichneten Erstling «Dene wos guet geit» (2017) präsentiert Cyril Schäublin mit «Unrueh» erneut einen herausragenden Film, etwas vom Besten, was man zurzeit nicht nur im Schweizer Kino zu sehen bekommt. In der Sektion «Encounters» an der diesjährigen Berlinale erhielt Schäublin bereits den Preis für die beste Regie.
Unrueh
Regie: Cyril Schäublin
CH 2022, 93 Minuten
Ab Do, 17.11., im Kino