François Ozons jüngstes Werk bewegt sich ganz nah an der Realität: «Grâce à Dieu» ist ein dokumentarischer Spielfilm mit einem Stoff aus der gegenwärtigen Wirklichkeit Frankreichs. Er ist in einem solch hohen Masse brisant, dass gewisse Kreise den Start des Films gar verhindern wollten. Er kam dann in Frankreich doch ins Kino, zwölf Tage nach seiner Premiere im Februar in Berlin. Hier, an den Internationalen Filmfestspielen, erhielt «Grâce à Dieu» den Grossen Preis der Jury.
Es geht um sexuellen Missbrauch von Minderjährigen durch Angehörige der katholischen Kirche, konkret um die Verfehlungen von Pater Bernard Preynat. Dieser arbeitete in den 1970er- und 1980er-Jahren als Seelsorger für Pfadfinder in der Umgebung von Lyon und soll sich an mutmasslich 70 Opfern vergangen haben. Ein Kirchengericht hat den Priester am 4. Juli 2019 schuldig gesprochen.
«Die Wunde heilt, wenn wir nicht kratzen»
Kardinal Philippe Barbarin, Erzbischof von Lyon, und andere hohe Würdenträger mussten Anfang Jahr vor Gericht erscheinen wegen Nichtanzeige der sexuellen Übergriffe und wegen unterbliebener Hilfeleistung. Barbarin wurde im März dieses Jahres verurteilt. Er ging in Berufung.
So weit das Juristische. Das Menschliche hinter dem Skandal ist Thema von Ozons Film. Denn er stellt die Opfer in den Mittelpunkt. Welches Leid wurde ihnen angetan? Was bedeutet Schuld und Sühne, wie steht es mit Reue und Vergebung, wie kann man sich angesichts der Ungeheuerlichkeiten seinen Glauben bewahren? Und wie kann man sich, wenn auch spät, wehren?
Das Missbrauchsopfer Alexandre (Melvil Poupaud) ist inzwischen 40-jährig, Vater von fünf Kindern, in gehobener Stellung und gläubiger Katholik in Lyon. Als er erfährt, dass sein damaliger Peiniger Preynat immer noch mit Kindern und Jugendlichen arbeitet, beginnt sein Kampf um Gerechtigkeit.
Eigentlich will er vorerst nur, dass Preynat gesteht. Billige Trostworte einer «Kirchenpsychologin» lauten etwa so: «Die Wunde heilt, wenn wir nicht kratzen.» Beim Treffen mit Preynat unterlässt es der Priester, um Vergebung zu bitten. Alexandre erwartet «Massnahmen der Kirche», findet Verbündete für die Selbsthilfeorganisation «La Parole Libérée» («Das gebrochene Schweigen»). Sie sammeln Dokumente, machen sie online öffentlich, suchen nach weiteren Betroffenen. Es ist ein schwerer, schmerzvoller Weg, den sich die Gruppe vornimmt. Ihr Engagement wird zum relativen Erfolg führen.
Ein starkes Stück Gegenwartskino
«Grâce à Dieu» ist beinahe-dokumentarisch. Tatsächlich wollte der französische Regisseur und Drehbuchautor François Ozon erst einen Dokumentarfilm statt eines Spielfilms realisieren. Während fast zweieinhalb Stunden, die nie langweilig werden, geht er in fiktiver Form den Wirklichkeitsspuren nach. Ozon legt den Finger in die Wunden, konzentriert sich auf die Gegenwart. Einzig in ein paar wenigen Rückblenden scheinen Missbrauchsszenen auf, ganz dezent, ohne eine Handlung explizit zu zeigen. Ein starkes Stück Gegenwartskino.
Grâce à Dieu
Regie: François Ozon
Ab Do, 3.10., im Kino