Zwei Welten prallen aufeinander – buchstäblich: Ein Verkehrsunfall in einer Regennacht bringt alles ins Rollen im neuen Film des schweizerisch-italienischen Regisseurs und Drehbuchautors Silvio Soldini («Pane e tulipani»). Im Streit mit einem Arbeitskollegen steigt die ehrgeizige Wirtschaftsanwältin Camilla Corti (Kasia Smutniak) in Mailand aus dem Taxi, geht zu Fuss weiter und wird an einer Ampel von zwei Männern auf einem Roller touchiert. Einer fährt unerkannt davon, der andere bleibt schwer verletzt liegen. Er wird später im Spital sterben. Camilla hat sich beim Unfall den Arm gebrochen.
In Camillas Welt regiert der Managersprech, in dem sich die Businessleute verständigen, wenn es um irgendwelche Firmenübernahmen oder Konzernbeteiligungen geht. Eine knallharte Geschäftswelt, so scheint es. Camilla ist mittendrin. Sie arbeitet fast rund um die Uhr, ihr und den anderen wird abverlangt, vor einem Deal schon mal bis Mitternacht im Büro zu bleiben.Neben der Arbeit hat Camilla Zeit für kurze Begegnungen mit Maurizio, für Schäferstündchen im von ihm angemieteten Liebesnest. Kaum Zeit findet sie für ihre Tochter Adele (Caterina Forza), die ihr Studium schmeissen will und gegen ihre Mutter rebelliert.
Obsessive Nachforschungen
Bei Camilla kommen Zweifel auf: War die Ampel wirklich auf Grün? Oder trifft sie eine Schuld am Unfall und am Tod des jungen Immigranten? Ist sie nicht einfach Opfer, sondern auch Täterin? Trägt sie eine Mitverantwortung am Unglück?
Geradezu obsessiv stellt Camilla eigene Nachforschungen in ihrem Fall an. Sie besucht die Leichenhalle, freundet sich dort mit dem Leiter Bruno (Francesco Colella) an. Die Anwältin geht hinaus in eine ihr fremde Welt, wenn sie in der Suppenküche recherchiert. Doch die Identität des jungen Verstorbenen lässt sich nicht herausfinden. Nur so viel: Er war zwischen 17 und 20 Jahre alt, vermutlich aus dem Irak, aus Afghanistan oder Syrien stammend, so die vagen Angaben der Leichenschauer. Offiziell ist der Unbekannte eine Nummer geworden: «3/19», die dritte nichtidentifizierte Leiche in diesem Jahr.
Die Vorzeigeanwältin Camilla wird durch ein dramatisches Vorkommnis in ihrem bisherigen Leben erschüttert. Es geht nicht nur um ihr Interesse am Toten. Aus dem eigenen Leben tauchen Schatten auf. Camilla wird ihrer Tochter eines Tages das Familiengeheimnis um den Tod ihrer Schwester eröffnen. Ein Tagebuch offenbart es. Camilla hat schon einmal grosse Schuld auf sich geladen. Diese biografische Episode ist denn auch der Grund für ihr Engagement für den toten Jungen.
Ein versöhnlicher Abschluss
Der Film von Silvio Soldini ist eine Art verhaltener Thriller, der grosse Fragen stellt. Am Schluss geht es versöhnlich zu und her. Camilla hat zusammen mit Adele für den Unbekannten eine würdige letzte Ruhestätte ausgesucht. Auf dem Friedhof finden Mutter und Tochter wieder zusammen. Und ein Mann kommt erneut ins Spiel.
Il Giardino del Re
Regie: Silvio Soldini
I/CH 2021, 117 Minuten
Ab Do, 7.7., im Kino