Rennen über den Steinstrand am gleissend hellen Meer, hektisches Keuchen, am Boden liegen orange Schwimmwesten, verwaist. Die Handkamera wackelt, und die Zuschauer sind mittendrin. Mittendrin in diesem Albtraum. Ein Gummiboot rückt ins Blickfeld, überfüllt mit Menschen. Helfer am Strand strecken ihnen die Hände entgegen, murmeln beschwörend: «Everything is okay.» Sie tragen die Kinder an Land, einige unter Medikamenteneinfluss schlafend, andere mit schreckgeweiteten Augen. Die Ankommenden werden in wärmende Decken gehüllt.
Mit dieser Eingangsszene reisst der Film «Volunteer» die Zuschauer direkt hinein ins Geschehen. Sie stehen mit den freiwilligen Helfern der Organisation «Schwizerchrüz» im Herbst 2015 am Strand der griechischen Insel Lesbos, spüren den Willen, zu helfen, aber auch die Hilflosigkeit. Täglich kommen tausende Flüchtlinge auf der Insel an. Aber staatlich organisierte Hilfsorganisationen sind kaum vor Ort.
Anna Thommen und Lorenz Nufer arbeiten in ihrem Film mit authentischem Bildmaterial von Helfern und Flüchtlingen und stellen es ihren eigenen professionellen Filmaufnahmen aus der Schweiz gegenüber. Hier haben sie die Volunteers nach ihrer Rückkehr porträtiert und sie gefragt, wie sie diesen Kontrast zwischen Elend und Idylle erlebt haben. Der kulturtipp hat die beiden Filmemacher zum Gespräch getroffen.
kulturtipp: Durch die gegenwärtige Pandemie ist das Flüchtlingsdrama in den Hintergrund gerückt. Hat sich die Situation nun noch verschärft, und fast niemand schaut hin?
Lorenz Nufer: Ja, die Lage hat sich verschlimmert. Die Menschen sitzen in überfüllten Lagern fest und warten Monate oder Jahre, bis ihr Asylantrag bearbeitet wird. Auf Lesbos leben 15 000 Leute unter desaströsen Zuständen in einem Lager, das für 2800 konzipiert ist. Sicherheitsabstände können nicht eingehalten werden, es gibt keine Masken, kein Desinfektionsmittel, nicht mal fliessendes Wasser. Dass diese Zustände nicht behoben werden, hat auch mit einer von der EU beabsichtigten Abschreckung zu tun, damit die Geflüchteten gar nicht erst kommen.
Wie, glauben Sie, wird Ihr Film in dieser Zeit aufgenommen, in der viele mit eigenen Ängsten beschäftigt sind?
Anna Thommen: An den Solothurner Filmtagen, noch vor Corona, waren die Zuschauer aufgewühlt, es gab rege Diskussionen. Und ich habe von vielen gehört, die sich danach selbst engagiert haben. Der Film hat etwas bewegt. Ich glaube nicht, dass sich das durch die aktuelle Lage ändert. In unserer privilegierten Situation haben wir noch Kapazitäten, um für andere zu schauen. Unser Film knüpft an sehr aktuelle Fragen an: Wie leben wir Solidarität in unserer Gesellschaft? Wie schützen wir die Schwächsten?
Wie können sich Zuschauer, die von diesem Film berührt werden, selbst engagieren, auch wenn es vielleicht nicht möglich ist, vor Ort zu reisen?
Thommen: Man kann zum Beispiel Unterschriften sammeln für Petitionen, damit die Schweiz mehr minderjährige Menschen auf der Flucht aufnimmt. Oder Briefe an Politiker schreiben. Ich selbst kann mit zwei kleinen Kindern und meiner Arbeit auch nicht vor Ort aktiv werden. Aber wichtig ist, dass man nicht wegschaut.
Nufer: Jeder kann eine Haltung entwickeln, sich politisch engagieren, abstimmen, andere bei ihrem humanitären Engagement unterstützen, sei das finanziell oder aktiv bei Hilfsorganisationen.
Im Film zeigen Sie unterschiedliche Volunteers. Ein SVP-Wähler aus dem Simmental engagiert sich ebenso wie eine 74-jährige Pensionärin. Nach welchen Kriterien haben Sie die Protagonisten ausgesucht?
Thommen: Es sind Leute, die uns überrascht haben, die vielseitig und widersprüchlich sind, die uns inspirieren. Wir wollten mehr über sie erfahren, etwa über den Bauern aus dem Simmental: Wie ist es für ihn, wenn er nach dieser Erfahrung wieder mit seinen Kollegen, die alle SVP wählen, in der Beiz sitzt? Wie kommen diese Menschen, die sich verändert haben, zurück in ihre Welt, die sich nicht verändert hat?
Was hat Sie an den Helfern am meisten beeindruckt – und wo standen Sie ihnen kritisch gegenüber?
Nufer: Ihr Mut, zu helfen, hat mich beeindruckt.
Thommen: Mich hat diese persönliche Empörung über die Lage in Europa beeindruckt. Ich habe gespürt: Die haben etwas erlebt, das auch uns etwas angeht. Nach ihrem Einsatz waren sie elektrisiert, richtig glücklich.
Nufer: Das kann ich bestätigen. Ich war selbst als Volunteer vor Ort. Man bekommt bei einem solchen Einsatz eine volle Packung Leben. Man muss in existenziellen Situationen plötzlich agieren und entscheiden. Dieser Flash kann auch problematisch sein, wenn Helfer kommen, um sich selbst aufzuwer-ten oder einfach etwas zu erleben. Aber letztlich zählt die Tat. Und solange jemand die Arbeit gut macht und etwas bewirkt, hilft es.
Bei «Volunteer» handelt es sich nicht um einen Dokumentarfilm im herkömmlichen Sinne. Vieles lassen Sie offen, Namen werden etwa nicht eingeblendet. Warum?
Thommen: Wenn man die Protagonisten mit Namen anschreiben würde, dann würde es beispielsweise explizit um Michi Räber gehen, der die Hilfsorganisation «Schwizerchrüz» gegründet und den Prix Courage erhalten hat. Aber er steht exemplarisch für viele Helfer und Organisationen. Es geht um uns, um uns alle. Man soll nicht die Helden feiern und sich selbst zurücklehnen. Das sind Menschen wie du und ich, die in Handlung treten.
«Man ist danach nicht mehr der Gleiche», sagt ein Volunteer im Film. Inwiefern hat dieser Film Sie selbst verändert?
Nufer: Ich bin mir bewusst geworden, wie wichtig es ist, dass wir als Gesellschaft und als einzelne Menschen Werte haben. Und dass wir an ihnen festhalten müssen, egal, welches die Herausforderungen sind.
Thommen: Ich habe mehr Mut bekommen, Stellung zu beziehen. Während des Films habe ich gemerkt, dass es gar nicht so viel braucht, um Einfluss zu nehmen.
Volunteer
Ab Do, 3.9., im Kino
Infos zum Film mit Links zu Hilforganisationen: www.volunteer-film.ch
Das Regieduo
Die Baslerin Anna Thommen (*1980) hat an der Zürcher Hochschule der Künste Filmregie studiert und arbeitet als Regisseurin, Autorin und Cutterin. Der Zürcher Lorenz Nufer (*1976) hat die Hochschule für Schauspiel Ernst Busch in Berlin absolviert und war mehrere Jahre Ensemblemitglied an Theaterhäusern. Aktuell arbeitet er als Regisseur und Autor für Film und Theater.