Der kleine Sero ist unglücklich, weil er keine Trickfilme am Fernsehen schauen kann. Denn das Dorf in Syrien hat noch keinen Strom. Sein Onkel Aram ist unglücklich, weil er seine Liebe zur Nachbarin Hannah nicht ausleben kann. Denn er ist Muslim und sie Jüdin. Und der angereiste Dorflehrer ist unglücklich, weil er es nicht schafft, «das Licht Arabiens» anzufachen, und im kurdischen Dorf ein Aussenseiter bleibt. Sero und sein Onkel finden ihr Glück dennoch, indem sie die türkischen Soldaten jenseits der nahen Grenze ärgern. Der Dorflehrer, indem er eine Palme in die karge Wüste pflanzt. «Die wird hier nicht wachsen», sagt ihm Seros Grossvater. «Überall auf arabischem Boden wachsen Palmen», entgegnet der Lehrer stolz. «Eben», sagt der Grossvater.
Ein vielschichtiger Film, aber tänzelnd leicht
Es sind solch gleichnishafte Dialoge, viele kleine Gesten und grosse Bilder, die «Nachbarn» zu einem Kunstwerk machen. Mano Khalil ist es gelungen, die Komplexität des Nahen Ostens und mithin des Menschseins an sich auf poetische Art darzustellen. Dabei hilft ihm ein Trick: Er erzählt aus Sicht eines Kindes, das in den 1980ern im geteilten, politisch noch nicht existierenden Kurdistan lebt. Im Norden Syriens, an einen Stacheldrahtzaun gedrängt, durch den es seine Grosseltern umarmen darf, wobei sich der Schleier der Grossmutter in den Stacheln verfängt – wieder so ein Bild.
Sero kommt in die Schule und versteht nichts von dem, was der Lehrer sagt. Denn der spricht Arabisch, Sero aber nur Kurdisch. «Wie soll ich denn nun beten: arabisch oder kurdisch?», fragt er, nachdem er erste Brocken der Zwangssprache lernt. Mit solchen Fragen bringt er seine Eltern zum Lachen. Seinen Grossvater macht er stolz, seinen Lehrer wütend. Als er zwei geliebte Menschen verliert, wird Sero, der bis dahin verspielte Spitzbub, schlagartig ernst. «Ihr seid alles Feiglinge», schreit er in die Runde, die ob der gewalttätigen Willkür der Machthaber längst resigniert hat.
«Nachbarn» ist ein vielschichtiger Film, der aber tänzelnd leicht daherkommt. Dies vor allem dank Sero, der alle im Dorf – und alle im Kinosaal – immer wieder zum Lachen bringt. Der auch Hoffnung verkörpert, indem er auf den Strom wartet, den Fernseher, das erhellende Licht. Auf dieses warten auch die jüdischen Nachbarn von Seros Familie, sein Onkel Aram, der Dorflehrer.
Mano Khalil, der 1964 als Kurde in Nordsyrien geboren wurde, lebt seit 1996 in Bern und hat mit dem Dok «Unser Garten Eden» 2010 für Aufsehen gesorgt. Mit «Nachbarn» ist ihm ein erzählerisch und formal grossartiger Spielfilm gelungen. Die Kinder darin hat er übrigens in syrischen Flüchtlingslagern gecastet.
Nachbarn
Regie: Mano Khalil
CH 2021, 124 Minuten
Ab Do, 14.10., im Kino