Richterin Fiona Maye ist spezialisiert auf komplizierte Fälle. Aufgrund ihrer messerscharfen Urteilskraft gilt sie als Kapazität für Familienrecht, was ihr eine entsprechend steile Karriere beschert. Ihre eigene Familie beschränkt sich auf Ehemann Jack, der zwar stolz ist auf seine Frau, sie aber zunehmend vermisst. Denn Fiona sitzt fast pausenlos am Londoner High Court, und so beginnt Geschichtsprofessor Jack eine Affäre mit einer Studentin. Dies teilt er Fiona eines Abends auch mit, was diese in eine tiefe Krise stürzt.
Ablenkung findet sie im Fall Adam Henry: Der Teenager liegt mit Leukämie im Spital, seine Eltern verweigern eine lebensrettende Bluttransfusion. Als Angehörige der Zeugen Jehovas taxieren sie eine solche als verunreinigend. Richterin Maye entscheidet gegen die Eltern und beruft sich dabei auf den «Children Act», einen Gesetzesparagrafen, der im Zweifelsfall das «Kindeswohl» über alles stellt.
Das Drehbuch stammt von Ian McEwan
Mit seinem Roman «The Children Act» («Kindeswohl») löste der englische Autor Ian McEwan 2014 eine intensive Debatte aus, schuf er doch eine eindringliche Parabel über den moralischen Gegensatz von Recht und Religion. McEwans Landsmann Richard Eyre ist nun eine Verfilmung gelungen, die dem Roman punkto Atmosphäre und Spannung in nichts nachsteht. Mit Emma Thompson als Fiona Maye, Stanley Tucci als Ehemann Jack und dem 21-jährigen Newcomer Fionn Whitehead als Adam Henry hat er die drei Hauptrollen bravourös besetzt. Denn diese Dreierkonstellation macht «The Children Act» erst zum Meisterwerk. McEwan, der auch das Drehbuch zur Filmadaption schrieb, gibt der an sich akademischen Formel «Recht versus Religion» damit menschliche Tiefe.
Bevor sie ihr Urteil fällt, besucht Richterin Maye Adam im Spital. Diese Begegnung hilft ihr bei der Urteilsfindung; bei Adam löst sie ganz anderes aus. Nach seiner Genesung sucht er den Kontakt zur Richterin. Er möchte ihr danken, von ihr lernen, wie er sagt, und am liebsten gleich bei ihr einziehen. Maye wehrt sich gegen diese Annäherung, ist aber doch fasziniert vom jungen Mann, der seinen einengenden Glauben offenbar gegen Lebensfreude und Abenteuerlust eingetauscht hat. Als sie ihn eines Nachts brüsk abserviert, reagiert Adam verstört und fragt sie, weshalb sie ihn als Richterin überhaupt gerettet habe, wenn sie ihn als Mensch nun zurückweise.
Im Privaten agiert die Richterin hilflos
Fiona ist sprachlos, ähnlich wie an jenem Abend, als Ehemann Jack ihr seine Affäre offenbarte. In beiden Fällen ist ihre Reaktion – auch nach intensiver Nachfrage des Gegenübers – lähmendes Schweigen. Im Privaten scheint Fiona Maye jegliche Urteilskraft abzugehen, ganz im Gegensatz zu ihrer Rolle im Gericht, wo sie Paragrafen beiziehen kann. So führt Ian McEwan Roman und Film letztlich hin zur Fragestellung nach der Realitätsnähe und Alltagstauglichkeit von Recht und Gesetzen.
Richard Eyre, der in England als Theaterregisseur begann und mit Filmen wie «Iris» (2001) oder «The Other Man» (2008) bekannt wurde, bleibt mit «The Children Act» nahe an der Vorlage. Bis zum Ende, das hier nicht verraten sei, zumal jeder und jede – lesend oder schauend – daraus eigene Schlüsse ziehen kann.
The Children Act
Regie: Richard Eyre
Ab Do, 30.8., im Kino