Sie sind wieder da, die kleinen glupschäugigen Wesen mit ihren übergrossen Rundköpfen. 2016 war es, als Claude Barras mit seinem ersten Langfilm «Ma vie de Courgette» auf Anhieb eine Oscarnomination ergatterte und zwei Césars, den European Film Award sowie den Schweizer Filmpreis gewann.
Acht Jahre später trifft der kulturtipp den Walliser Animationsfilmregisseur anlässlich der Schweizer Premiere von «Sauvages – Tumult im Urwald» am Locarno Film Festival. Auch diesmal sind Kinderfiguren die Stars im Werk, bloss leben sie nicht um die Ecke, sondern 11 000 Kilometer entfernt in einem Urwald auf Borneo.
Das Interesse an Barras’ Film ist riesig. Der Regisseur spricht vor vollen Rängen an der Pressekonferenz, zeigt sich an einem Sponsorenempfang, lädt Schulklassen zum Privatscreening und nimmt an einem Publikumsgespräch teil. Kurz bevor er auf der Piazza Grande mit dem Locarno Kids Award ausgezeichnet wird, findet er noch Zeit für eine Privataudienz im Hotel Belvedere.
kulturtipp: Monsieur Barras, mit «Ma vie de Courgette» feierten Sie 2016 einen Riesenerfolg. Inwiefern hat Ihnen dieser geholfen, den aktuellen Film zu finanzieren?
Claude Barras: «Sauvages» war von Anfang an ein ambitioniertes Projekt mit vielen Figuren und unzähligen Regenwald-Dekors. Das kostet Geld und war aufgrund der ökologischen Problematik des Films nicht leicht zu verkaufen. Da hat mir der Erfolg von «Zucchini» enorm geholfen, um bei Produzenten kreditwürdig zu sein. Man darf nicht vergessen: Ein Stop-Motion-Film dauert in der Herstellung sechs bis sieben Jahre.
Sie haben die Latexfiguren für «Sauvages» abermals Bild für Bild modelliert. Was fasziniert Sie an der Stop-Motion-Technik?
Für mich ist das eine Form des Widerstands gegen die Welt der Virtualität und Computer. Ich brauche den Kontakt zur Realität und zum Material, ich möchte meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in die Augen schauen. Als Filmteam hatten wir uns monatelang wie Nomaden in Martigny niedergelassen, nicht weit von meinem Wohnort. Und ich glaube, diesen Gemeinschaftsgeist kann man im Film spüren.
Was in «Sauvages» auffällt: Die Sprache der Penan-Ureinwohner auf Borneo wird nicht übersetzt. Das Orang-Utan-Baby Oshi hat ebenfalls keine Sprache. Disney hätte das anders gemacht …
Ja, mein Anspruch ist es, möglichst realistische Filme mit aktueller Problematik zu drehen. Oshi wollte ich nicht vermenschlichen. Stattdessen haben wir mit Gesichtsausdrücken experimentiert, um ihm eine Sprache zu geben. Diese Entscheidung fällte ich ganz zu Beginn, auch bezüglich der Penan: Die Geschichte ist aus Sicht der jungen Kéria erzählt, deshalb darf sie nicht verstehen, was ihre im Dschungel lebenden Verwandten sagen. Allerdings war das den Geldgebern nicht ganz einfach zu verkaufen, selbst jetzt kommen immer wieder Fragen nach Untertiteln.
Wie haben Sie Ihre Vision verteidigt?
Ich hatte Glück. Wes Anderson hatte 2018 den Animationsfilm «Isle of Dogs» gedreht, in dem einige Figuren ausschliesslich japanisch sprachen. So konnte ich sagen: Schaut her, das gibt es schon.
«Sauvages» wird aus Kinderperspektive erzählt. Ähnlich wie in «Courgette» geht es auch hier um eine zerbrochene Familie. Absicht oder Zufall?
Das habe ich mich auch schon gefragt (lacht). Tatsache ist: Ich bin Vater einer zweieinhalbjährigen Tochter, und eine der wichtigsten Fragen, die mich umtreiben, ist: Was können wir unseren Kindern weitergeben? Und wie kann ich das auf möglichst verständliche Art sagen?
«Sauvages» handelt von der Abholzung der Urwälder in Borneo. Da läge es auf der Hand, didaktisch vorzugehen …
Ich war zu Beginn des Projekts tatsächlich von einem sehr militanten Willen inspiriert. Aber dann merkte ich, dass der Schlüssel in der Einfachheit der Erzählung lag. Das heisst nicht, dass man schwierige Themen meiden sollte.
Sondern?
Man muss im Film nach einem Gleichgewicht suchen. Wer ins Kino geht, soll sich unterhalten dürfen, aber auch den Ernst der Lage verstehen.
Sie reisten selbst nach Borneo. Wie haben Sie das Penan-Volk erlebt?
Es hat sehr geholfen, dass sich der Schweizer Bruno Manser so sehr für die Penan eingesetzt hatte. Für sie ist er fast schon eine legendäre Figur, da wird man als Schweizer rasch in die Familie aufgenommen. Ich durfte zehn Tage mit den Penan verbringen, zusammen mit einem Übersetzer, und konnte Teil ihres Alltags sein. Das war eine der schönsten Erfahrungen meines Lebens.
Hatten Sie Vorbilder für Ihren Film?
Soll ich ein Geheimnis verraten?
Gerne.
Mein Lieblingsfilm ist bis heute «Prinzessin Mononoke» (1997) von Hayao Miyazaki, einem Meister des Animationsfilms. Auch da geht es um den Clash zwischen Wildnis und Zivilisation. «Sauvages» ist im Grunde der Versuch eines versteckten Remakes dieses Films.
Sauvages – Tumult im Urwald
Regie: Claude Barras
CH/F/Belgien 2024, 87 Minuten
Ab Do, 6.2., im Kino
Film «Sauvages – Tumult im Urwald»
Von einem Stammesältesten auf Borneo (Bild, links) würde man das nicht unbedingt erwarten: Klingelt sein Mobiltelefon, ertönt der «Rocky»-Song «Eye of the Tiger». Ein Detail, mit dem Regisseur Claude Barras bereits den Unterschied zu US-Animationsfilm-Dutzendware macht. «Sauvages – Tumult im Urwald» punktet mit Witz, Herz und Mut zur Entstereotypisierung.
Es beginnt mit Kéria (Bildmitte, Stimme: Babette De Coster), deren Vater (Benôit Poelvoorde) auf Borneo für einen Palmölkonzern arbeitet. Als eine flüchtende Affenmutter von Arbeitern getötet wird, adoptiert Kéria das Affenbaby Oshi. Doch dann kommt ihr kleiner Cousin, der indigene Selaï (Martin Verset), zu Besuch, was umgehend zu Eifersüchteleien führt.
Barras, der schon in «Ma vie de Courgette» von einer zerbrochenen Familie erzählte, beweist in «Sauvages» abermals ein Händchen für Aussenseiter. Er lässt Kéria den Wurzeln ihrer Familie nachgehen (wurde ihre Mutter wirklich von einem Panther gefressen?) und verniedlicht dabei nichts. Im Gegenteil: Der Dschungel wirkt unheimlich, vor allem nachts. Tagsüber sind es die Holzfäller, gegen die sich die Penan wehren müs-sen – eine Geschichte, die seit Bruno Mansers Engagement gegen die Abholzung des Borneo-Regenwalds bekannt ist.
Wie Barras das Thema umsetzt, ist aber einzigartig. Die Figuren mit den grossen Köpfen wachsen einem gleich ans Herz. Zudem lässt der Regisseur die Dialoge der Penan unübersetzt, das Affenbaby Oshi darf nur äffisch quieken. So verfügt «Sauvages» fast über Stummfilmqualität, wobei einen das exquisite Sounddesign mitten in den Dschungel versetzt. Da spürt man jeden Blutegel.