Film: Sinfonie des Protests
Patricio Guzmán hat 2019 den Aufstand seiner chilenischen Landsleute begleitet. Sein Film ist ein politisches Lehrstück und ein Postulat in einem poetischen Kleid.
Inhalt
Kulturtipp 21/2022
Frank von Niederhäusern
Um ein Feuer zu verstehen, müsse man Zeuge des ersten Funkens sein. Diesen Rat eines Mentors hat sich Patricio Guzmán zu Herzen genommen. In seinen Filmen dokumentiert der Chilene die soziopolitische Gegenwart in seiner Heimat und verweist auf deren Ursprünge. Im Oktober 2019 spürte Guzmán einen besonderen Funken, der in den Metrostationen von Santiago de Chile entstand. Als die Regierung unter dem ultrarechten Präsidenten Sebastián Piñera die F...
Um ein Feuer zu verstehen, müsse man Zeuge des ersten Funkens sein. Diesen Rat eines Mentors hat sich Patricio Guzmán zu Herzen genommen. In seinen Filmen dokumentiert der Chilene die soziopolitische Gegenwart in seiner Heimat und verweist auf deren Ursprünge. Im Oktober 2019 spürte Guzmán einen besonderen Funken, der in den Metrostationen von Santiago de Chile entstand. Als die Regierung unter dem ultrarechten Präsidenten Sebastián Piñera die Fahrpreise erhöhen wollte, reagierten Studenten mit Protesten. Guzmán weilte im Ausland und kehrte sofort zurück. Dem Titel seines nun vorliegenden Dokfilms haftet etwas Utopisches an: «Mi país imaginario » – «Mein erträumtes Land». Tatsächlich hat der Protest eine Entwicklung in Gang gesetzt, die den Weg zu einer Utopie ebnete, wie sie sich die Mehrheit der Chilenen ausgemalt hatte. Als Spätfolge des Putsches 1973 und der Pinochet-Diktatur leidet Chile bis heute unter Korruption und sozialer Ungleichheit. Der Metro-Funke weckte Frauen, Rentner, die Landbevölkerung. Unter dem Motto «Es reicht!» demonstrierten am 25. Oktober 2019 über eine Million Leute in der Hauptstadt. Die Forderung: eine neue Verfassung.
Nach den Studenten übernahmen die Frauen
Guzmán war pausenlos am Filmen. Seinen Strassenszenen stellt er nun Statements von Politologinnen, Künstlerinnen, Aktivistinnen gegenüber. Denn nach den Studenten übernahmen Frauen die Dynamik der Bewegung. Ohne Anführerin, ohne Ideologie. Filmer Guzmán verbindet einmal mehr Dokumentation und Poesie: mit grossartigen Aufnahmen und Texten, die «Mi país imaginario» zu einer «Sinfonie des Protestes» machen, wie er selber sagt. Und zum politischen Lehrstück und humanistischen Postulat. Am Schluss des Filmes gibt der 2022 neu gewählte Präsident Gabriel Boric dem Land Hoffnung. Doch kürzlich hat Chile einen Rückschlag erlebt: Die auf der Strasse erkämpfte neue Verfassung wurde in einer Abstimmung Anfang September überraschend abgelehnt.
Mi país imaginario
Regie: Patricio Guzmán
Chile 2022, 83 Minuten
Ab Do, 6.10., im Kino