Der auslösende Moment für diesen Film war ein Museumsbesuch: In Oslo entdeckte Alice Schmid das Gemälde «Pubertät» (1895) von Edvard Munch, darauf abgebildet ein nacktes Mädchen und ein riesiger schwarzer Schatten. Schlagartig kam der Filmemacherin ins Bewusstsein, was ihr vor 50 Jahren widerfuhr. Etwas, das sie nicht nur verdrängt, sondern «komplett vergessen» hatte, kam an die Oberfläche: Schmid war als 16-jährige Schülerin im Zeltlager von ihrem Schwimmlehrer vergewaltigt worden – «Diese Nacht im Zelt hat mein Leben vergiftet.»
Und noch ein zweites Bild spielte eine Rolle: Im National Museum in Oslo hängt Oda Krohgs «Porträt von Margrethe Vullum» (1906), eine Frauenfigur, welche Alice Schmid an ihre Mutter erinnerte. Die Mutter, die sie fast jeden Tag geschlagen hatte. Der Vater schwieg. Er war es aber auch, von dem Alice mit neun Jahren ein Akkordeon geschenkt bekommen hatte. Ein Geschenk fürs Leben, die Musik wird sie nie mehr loslassen.
«Auch wenn ich 1000 Kilometer gehen muss»
Dass sie als 16-Jährige mit Sprechen aufhörte, «praktisch keine Liebschaften» hatte, depressiv war, allein und einsam lebte – Erklärungen dafür findet Alice Schmid im sexuellen Missbrauch. Sie nimmt sich vor, diesen Film zu machen, sich den Schatten in ihrem Leben zu stellen. Dafür begibt sie sich auf den Weg durch die südafrikanische Wüste, mit dem Schwur, erst wieder zurückzukehren, wenn sie Worte für ihre Lage gefunden hat, «auch wenn ich 1000 Kilometer gehen muss». Diese äussere und innere Reise ist eine schmerzliche Erfahrung und dient als Bewusstwerden, als Selbstbestärkung und endlich als Befreiung.
Ein traditioneller Heiler rät ihr nicht nur zu einem reinigenden Dampfbad, sondern auch dazu, das Bild mit dem riesigen Schatten zu verbrennen – «Burning Memories», daher der Filmtitel.
Alice Schmid, deren von Ulrike Valentiner-Brauth gesprochener Kommentartext durch den Film trägt, dokumentiert ihre Wüsten-Erfahrung und montiert immer wieder biografisches Material und filmische Arbeiten dazwischen. Die 1951 geborene Innerschweizerin hat in ihrem Berufsleben wiederholt TV-Dokumentationen realisiert über Gewalt, Missbrauch, über geschundene Kinder, über Krieg. Durch ganz andere «Kinderfilme» ist sie dem Kinopublikum bekannt: «Die Kinder vom Napf» (2011) und «Das Mädchen vom Änziloch» (2016).
Der Film soll andere Betroffene ermutigen
Mit «Burning Memories» ist sie erstmals selber Protagonistin in einem ihrer Filme. Sie stellt sich dabei ihrer eigenen Lebensgeschichte mit grosser Offenheit und privater Nähe. Das ist schmerzhaft und am Ende heilsam. Ihr persönliches Leid und der Ausgang daraus sollen nicht bei ihr privat bleiben. Dieser emotionale, poetische und subtile Film soll andere zur Auseinandersetzung mit dem traurigen Thema anregen und Betroffene ermutigen.
Burning Memories
Regie: Alice Schmid
CH 2021, 80 Minuten
Ab Do, 28.10., im Kino