Es gibt anmutige, betörende oder graziöse Schauspielerinnen. Und dann gibt es Sandra Hüller. Eine Darstellerin von schmaler Statur, vor der Kamera aber ein Bollwerk, bis in die Zehenspitzen gefüllt mit Zähheit, Gefühl und Präzision, weshalb man sie auch die Spielwütige nennt. Hüller ist eine Künstlerin, die so virtuos und vielseitig auf ihrem Figurenmaterial orgelt, dass sie jüngst sogar dem «Hollywood Reporter» eine Titelgeschichte wert war: «Actress of the Year?», stand da in dicken Lettern.
Dass die 1978 im thüringischen Suhl geborene Darstellerin es einmal ganz nach oben schaffen würde, war früh absehbar. Ihre Theaterkarriere kam unmittelbar nach Abschluss der Schauspielschule in Berlin in Fahrt, woran auch die Schweiz einen Anteil hat. Von 2002 bis 2006 war Hüller Ensemblemitglied am Theater Basel, für ihre geistig behinderte Dora in Lukas Bärfuss’ «Die sexuellen Neurosen unserer Eltern» wurde sie zur Nachwuchsschauspielerin 2003 gewählt.
Und das war nur ein Vorgeschmack auf eine Karriere, die sich insbesondere beim Film entfalten sollte – mit einer ersten Hauptrolle in Hans-Christian Schmids «Requiem» (2006), wo sie eine von epileptischen Anfällen geplagte Studentin spielt, die an einer Teufelsaustreibung zugrunde geht. Eine Leidensfigur, klar, ausgefüllt aber auch mit Mut und Trotz gegenüber der frömmlerischen Herkunft. Dafür gewann Hüller ein erstes Mal den Deutschen Filmpreis – zwei weitere folgten.
2016 kam es zum internationalen Durchbruch: In «Toni Erdmann» besticht Sandra Hüller als Unternehmensberaterin, die Entlassungen managt, aber dann gegen die clownesken Störmanöver ihres Vaters ankämpfen muss, bis ihr aalglatter Panzer Risse bekommt. Der Film ist ein Minifamiliendrama im Gewand einer Sketchrevue, eine Parabel auf den Turbokapitalismus, angereichert mit den vielleicht unerotischsten Nackt- und Sexszenen der Neuzeit.
Mit phänomenalem Einfühlungsvermögen
Für Sandra Hüller war es ein Triumph, allerdings stiegen die Erwartungen darauf ins Schwindelerregende, wie sie selber zu bedenken gab. So verlegte sich die Darstellerin auf eher untypische Rollen wie jene der feierfreudigen Lehrerin in «Fack ju Göhte 3», der rätselhaften Gabelstaplerfahrerin in «In den Gängen» oder der emotional fehlprogrammierten Roboterin in Maria Schraders Science-Fiction-Romanze «Ich bin dein Mensch».
Wie phänomenal sich Hüller in ihre Figuren hineinzufressen versteht, bewies sie zuletzt auch im Frühling 2023 in Cannes. Zwar erhielt die zur Königin des Festivals ausgerufene Darstellerin keinen Preis, aber sie prägte zwei Filme mit ihrem Spiel so sehr, dass diese mit den höchsten Auszeichnungen bedacht wurden: «Anatomie d’une chute» erhielt die Goldene Palme, «The Zone of Interest» den Grossen Preis der Jury. So etwas hatte es zuvor noch nie gegeben.
Vergleichen lassen sich die Rollen kaum – oder höchstens insofern, als sie auf verschiedene Arten eine Grenzüberschreitung wagen. Zunächst sprachlich: In «Anatomie» spielt Hüller eine unter Mordverdacht stehende deutsche Schriftstellerin in Frankreich, die lieber englisch als französisch spricht. In der Schwebe bleibt, ob sie dies zur präziseren Artikulierung oder zur raffinierten Vertuschung der mutmasslichen Tat tut. Im britischen Film «The Zone of Interest» wiederum redet Hüller als Gattin des AuschwitzLagerkommandanten Rudolf Höss deutsch.
Aber die Alltagsmaske dieser gartenvernarrten Hedwig ist dünn. Und manchmal herrscht sie ihre jüdischen Dienstboten unvermittelt mit Todesdrohungen an, während hinter der angrenzenden Lagermauer Rauch aus den Krematorien aufsteigt. Als ihr Mann nach Berlin versetzt werden soll, verliert sie die Fassung. «Anatomie» wurde Hüller auf den Leib geschrieben, und beide Filme erfahren durch ihr Spiel eine «chemische Prägung», wie es «Anatomie»-Regisseurin Justine Triet formulierte.
Man könnte auch sagen, dass Hüller in diese unberechenbaren Figuren eingesunken ist, als ob sie aus flüssigem Wachs seien. Da sind emotionale Eruptionen, die scheinbar aus dem Nichts kommen, mit eingepreist.
Sieben Fragen an Sandra Hüller
Sie spielen in «Anatomie d’une chute» eine widersprüchliche, auch lügende Figur, die vielleicht einen Mord begangen hat. Wie haben Sie das erarbeitet?
Sandra Hüller: Stück für Stück, Szene um Szene. Was man im Film sieht, basiert auf Entscheidungen, die im Schnitt getroffen wurden. Das heisst, es gab viele andere Varianten. Ziel war es, dass so lange wie möglich in der Schwebe bleibt, wie wir uns als Zuschauer dieser Person gegenüber verhalten sollen.
Stimmt es, dass Regisseurin Justine Triet Ihnen nicht verriet, ob Ihre Figur den Mord begangen hat?
Ja. Das war am Anfang schwer für mich, weil kurz vor Drehbeginn die Aufregung steigt und manchmal Panik aufkommt, ob das, was ich mir vorgestellt habe, überhaupt funktionieren wird. Aber es geht in diesem Film nicht um Schuld oder Unschuld, sondern darum, was von aussen auf diese Sandra projiziert wird. Aber irgendwann fragte ich Justine dann doch …
Und?
Sie sagte, ich solle Sandra spielen, als ob sie unschuldig sei. Was ja die schlimmste Antwort ist, die man kriegen kann.
Warum?
Weil es dann noch uneindeutiger ist. Darauf habe ich beschlossen, dass diese Frage für mich keine Rolle spielen darf. Und dass ihr geglaubt werden soll, wenn sie spricht.
Gibt es Rollen, in denen Sie sich besonders wohl oder unwohl fühlen?
Ich wähle meine Filme in der Regel so aus, dass ich mit diesen Figuren Zeit verbringen möchte. Aber wohlfühlen ist nicht die richtige Kategorie. Ich finde es manchmal hilfreich, wenn eine Figur wenig mit mir zu tun hat und ich sie mir zusammenfantasieren kann. Der Abstand zwischen mir und dem, was zu spielen ist, erzeugt ja eine Spannung. Wenn das zu nah dran oder zu weit weg ist, dann funktioniert es nicht mehr. Darum muss eine Annäherung erfolgen. Es gibt aber Ausnahmen wie «The Zone of Interest».
Worin besteht die Ausnahme?
Was ich da gemacht habe, betrachte ich als Element im Film, nicht als Charakter. Es war klar, dass das ein grosses Experiment ist, aber mir gefiel, dass Regisseur Jonathan Glazer von Anfang an sagte, er wolle jegliche Form von Heldentum oder Romantisierung vermeiden.
Sie haben mal gesagt, dass Sie nie in einem Film mitspielen wollten, der Faschismus zum Thema hat. Warum haben Sie es doch gemacht?
Wegen des Ansatzes, den Regisseur Jonathan Glazer verfolgte. In meinem Fall hatte das dann auch nichts mit klassischer Rollenvorbereitung zu tun. Und die Kameras waren überall in diesem Haus. Das erzeugte eine Dauerspannung am Set, die sehr anstrengend, aber auch sehr fruchtbar war.
Film «Anatomie d’une chute»
Ein Mann liegt tot vor seinem Chalet. War es ein Unfall? Selbstmord? Oder hat ihn seine Ehefrau Sandra (Sandra Hüller) aus dem Fenster gestossen? Als es zum Gerichtsprozess kommt, erfährt man die Hintergründe: Während sie als Schriftstellerin Erfolge feierte, hat er praktisch nichts zustande gebracht.
Das eigentliche Augenmerk von Regisseurin Justine Triet gilt dieser von Streitigkeiten und Schuldgefühlen zerrütteten Paarbeziehung, die bis ins Detail auseinandergenommen wird. Wobei dem sehbehinderten Sohn des Paares vor Gericht eine entscheidende Rolle zukommt.
Regie: Justine Triet
F 2023, 151 Minuten
Ab Do, 9.11., im Kino