Film «Rojo»: Vor der Finsternis
Der junge argentinische Regisseur Benjamín Naishtat blickt mit seiner packenden Filmparabel «Rojo» zurück in die bewegten 70er-Jahre seiner Heimat.
Inhalt
Kulturtipp 14/2019
Letzte Aktualisierung:
03.07.2019
Frank von Niederhäusern
Claudio Mora fehlt es an nichts. Der Anwalt führt seine eigene Kanzlei, bewohnt mit Frau und Tochter ein schönes Haus, fährt eine grosse Limousine. Mora lebt in einer abgeschiedenen argentinischen Kleinstadt zwischen Meer und Wüste, «wo die Leute arbeiten und ihren Frieden wollen», wie er einmal sagt. Aus der brodelnden Politik hält er sich heraus. Man schreibt das Jahr 1975, die Provinz steht unter Sonderverwaltung, Leute verschwinden, in Buenos Aires dr&...
Claudio Mora fehlt es an nichts. Der Anwalt führt seine eigene Kanzlei, bewohnt mit Frau und Tochter ein schönes Haus, fährt eine grosse Limousine. Mora lebt in einer abgeschiedenen argentinischen Kleinstadt zwischen Meer und Wüste, «wo die Leute arbeiten und ihren Frieden wollen», wie er einmal sagt. Aus der brodelnden Politik hält er sich heraus. Man schreibt das Jahr 1975, die Provinz steht unter Sonderverwaltung, Leute verschwinden, in Buenos Aires drängt das Militär auf den Rücktritt der Regierung Evita Peróns.
Eines Abends wird Mora in seinem Stammlokal von einem Unbekannten provoziert. Er reagiert zuerst gelassen, dann liest er dem Unverschämten die Leviten. Vor dem Lokal lauert der Fremde Mora und seiner Frau auf, greift ihn an. Dann schiesst er sich in den Kopf. Mora ist schockiert und handelt unüberlegt.
Das ganze Land in triefendem Rot
Diese Schauergeschichte erzählt Benjamín Naishtat in eindringlichen Bildern, die er in schlicht gestaltete Szenerien packt. Der abrupten Hektik des Geschehens trotzt er mit wenigen Schnitten und lakonischen Dialogen, gestaffelt eingestreut erscheint der Vorspann mit Hinweisen auf Produzenten und Hauptdarsteller – der Filmtitel «Rojo» sogar erst nach gut 20 Minuten. Dieser formal verspielte Rahmen prägt den ganzen Film. Naishtat begleitet Anwalt Moro durch die nächsten Monate und durchsetzt seine Zweifels- und Leidensgeschichte mit weiteren Erzählsträngen. Alle tragen bei zu einem stetig sich intensivierenden Spannungsaufbau, der in einer Sonnenfinsternis kumuliert, die das Land in triefendes Rot (Rojo) taucht. Dieses Naturereignis erlebt Claudio mit Frau und Tochter während eines Kurzurlaubs am Meer. Als Zuschauer erkennt man die Eklipse freilich als Schattenwurf auf das, was bald geschehen wird: den Putsch und die folgende Militärdiktatur.
«Alle, die im Argentinien der 80er-Jahre geboren sind, tragen eine symbolische Last», kommentiert der 33-jährige Benjamín Naishtat seinen dritten Spielfilm. Nach «Historias del miedo» (2011) nimmt er sich erneut der dunklen Vergangenheit seiner Heimat an. «Rojo» aber packt gerade deshalb, weil sich das Ungeheuerliche erst abzeichnet in parabelhaften Anspielungen. «Vergessen wir die kleinen Übel im Angesicht der grossen», sagt Detektiv Sinclair dem verdutzten Anwalt Moro, der mit seiner ungesühnten Fehltat einer ungewissen Zukunft entgegenschaut.
Rojo
Regie: Benjamín Naishtat
Ab Do, 4.7., im Kino