Film: Reise ins Innere
Ohne Worte, aber mit Bildern von archaischer Kraft zelebriert Michelangelo Frammartino das Kino als Zauberkasten. Sein neuer Film «Il buco» ist ein formales Kunstwerk.
Inhalt
Kulturtipp 15/2022
Frank von Niederhäusern
Zuerst ist nur das Tropfen von Wasser zu hören, zu sehen ist nichts. Irgendwann summen Insekten, dann zirpen Grillen, schliesslich muht in der Ferne eine Kuh. Aus dem Schwarz löst sich wabernder Nebel, der sich zu Wolken ballt und schemenhaft den Blick aus einer Höhle erkennbar macht. Die ersten Minuten von «Il buco» rufen auch jenseits religiöser Sensibilität die «Genesis» in Erinnerung. Und elementar gehts weiter im neuen Film des Mail&a...
Zuerst ist nur das Tropfen von Wasser zu hören, zu sehen ist nichts. Irgendwann summen Insekten, dann zirpen Grillen, schliesslich muht in der Ferne eine Kuh. Aus dem Schwarz löst sich wabernder Nebel, der sich zu Wolken ballt und schemenhaft den Blick aus einer Höhle erkennbar macht. Die ersten Minuten von «Il buco» rufen auch jenseits religiöser Sensibilität die «Genesis» in Erinnerung. Und elementar gehts weiter im neuen Film des Mailänder Regisseurs Michelangelo Frammartino (54). «Il buco» ist eine fiktionale Dokumentation, die ohne Worte auskommt – und ohne eigentliche Handlung. Sie lebt von Naturbildern und -klängen, von Licht- und Schattenspielen, tierischen und menschlichen Gesten.
Einen dramaturgischen Rahmen hat der Film durchaus. Im Sommer 1961 steigen zwölf junge Höhlenforscher in ein Loch (italienisch: buco) auf der Hochebene von Pollino im süditalienischen Kalabrien.
Poetische Hommage an die Natur
Tag und Nacht dringen sie in Gänge vor, entdecken Kavernen und erreichen eine Tiefe von 687 Metern. Diese Erkundung des «Abisso del Bifurto», einer der tiefsten Höhlen weltweit, hat tatsächlich vor 61 Jahren nahe des Dorfes Cerchiara di Calabria stattgefunden.
Beobachtet wird das Forscherteam von einem alten Hirten, der auf der Ebene eine Herde von Pferden, Kühen und Eseln mittels knapper Rufe und Pfiffe beaufsichtigt. Neben der Höhle wird er zum zweiten Protagonisten des Films. Denn eines Nachts erleidet er einen Schlaganfall und stirbt kurz darauf in der Alphütte. Filmer Frammartino verknüpft die beiden Entwicklungen – das Absteigen in die Höhle und das Ableben des Hirten – und schafft damit eine poetische Hommage an die Natur als Gefüge aus Ewigkeit und Vergänglichkeit. All dies montiert er mit dem Tessiner Kameramann Renato Berta (77) zu kunstvollen Tableaus, die das Zuschauen zum sinnlichen Erlebnis machen. «Il buco» ist nichts für Fans des rasanten Handlungskinos. Der Film feiert die Entschleunigung und die formalen Möglichkeiten des Kinos.
Il buco
Regie: Michelangelo Frammartino
I 2021, 93 Minuten
Ab Do, 21.7., im Kino