Herbie Hancock ist ein alter Herr geworden. Doch wenn der weltbekannte US-Pianist im abgedunkelten Musik-Studio sitzt und über Jazz spricht, gehen seine 78 Jahre vergessen. «Musik enthält die besten Charaktereigenschaften, die Menschen zu bieten haben», sagt er mit funkelnden Augen. «Nämlich nicht zu werten oder zu konkurrieren, sondern gemeinsam den Moment zu leben und ihn zu teilen.» Sätze wie dieser sind oft zu hören im neuen Film von Sophie Huber. Die 46-jährige Bernerin liefert mit «Blue Note Records – Beyond The Notes» weit mehr als die Dokumentation der aussergewöhnlichen Geschichte eines Plattenlabels. Sie will Musik als Ausdruck von Freiheit darstellen.
«Ich schreibe, was ich mir wünsche», sagt im Film Saxofonist Wayne Shorter, ein Weggefährte Hancocks von ebenbürtiger Bedeutung. Diese lapidar erscheinende Aussage bringt die Philosophie von Blue Note Records auf den Punkt. 1939 von den jüdisch-deutschen Immigranten Alfred Lion und Frank Wolff in New York gegründet, ist das Musiklabel zur Heimat der bedeutendsten Jazzerinnen und Jazzern des 20. Jahrhunderts geworden.
Die beiden Europäer nahmen vor allem Afro-Amerikaner unter Vertrag und gewährten ihnen absolute künstlerische Freiheit. «Sie wollten nicht Geld verdienen, sondern Musik ermöglichen», betont der Saxofonist Lou Donaldson, ein Blue-Note-Musiker von 1952 bis 1974.
Ein Film voller Raritäten aus dem Blue-Note-Archiv
Sophie Huber startet ihre Dokumentation freilich in der Gegenwart und befragt Leute wie Pianist Robert Glasper (40), Trompeter Ambrose Akinmusire (36) oder Soulsängerin Norah Jones (39). Dass diese aktuellen Exponenten ihr Label mit gleicher Begeisterung und denselben Attributen beschreiben wie Donaldson, Hancock oder Shorter, nimmt die Filmerin zum Anlass, in der fast 80-jährigen Labelgeschichte zurückzublättern. Sie tut dies mit selten, teils erstmals zu sehenden Ton-, Bild- und Filmdokumenten, die sie im Labelarchiv fand, zu dem ihr der aktuelle Blue-Note-Chef Don Was freien Zugang gewährte. So tauchen auch Miles Davis auf, John Coltrane oder Thelonious Monk, die bei Blue Note epochale Alben eingespielt haben.
Höchst interessant gerade für Jazzlaien oder -muffel: Hubers Film zeigt so eindrücklich wie verständlich auf, wie Jazz funktioniert und entsteht. Und dass Jazz damit etwa den Hip-Hop beeinflusst hat, der dem Label letztlich die Existenz sicherte. Nach wirtschaftlichen Turbulenzen schaffte Bruce Lundvall in den 80er-Jahren nämlich die Wiedergeburt des Labels, indem er Hip-Hop-Musikern die Tonarchive für ihre Samples öffnete.
Material auch aus dem Swissjazzorama
Sophie Huber erzählt diese grosse Musikgeschichte mit Leichtigkeit und Raffinesse. Dabei ist es erst ihr zweiter Dokfilm. Thema und Zugang fand die Bernerin über ihren Debütfilm: Mit «Harry Dean Stanton – Partly Fiction» über den gleichnamigen US-Schauspieler wurde sie 2012 schlagartig international bekannt. «Blue Note Records – Beyond The Notes» ist eine US-britisch-schweizerische Co-Produktion. Material fand Huber unter anderem im Swissjazzorama in Uster ZH.
Vor ihren Film-Erfolgen war die ausgebildete Schauspielerin Huber in diversen Theater- und Filmproduktionen zu sehen, als Schauspielerin, Co-Regisseurin, Produzentin und Komponistin von Filmmusik. Eine interessante Film-Frau, von der wohl bald Neues zu erwarten ist. Sie selbst hält sich verschlossen. «Ich habe einige Ideen», mailt sie aus Los Angeles, «spruchreif ist keine».
Blue Note Records – Beyond The Notes
Regie: Sophie Huber
Ab Do, 14.6., im Kino
5 Fragen an Sophie Huber
«Ich hatte Zugang zu den Studio-Sessions»
kulturtipp: Sie leben in Bern, haben seit langem aber ein zweites Standbein in den USA. Wie kam es dazu?
Sophie Huber: Meine Faszination für die USA begann mit meiner Faszination für den Film. Ich besuchte in den 90er-Jahren eine Schauspielschule in Los Angeles. Danach lebte ich längere Zeit in Berlin, wo ich zu einem Filmkollektiv gehörte. Für meinen ersten Dokfilm über den Schauspieler Harry Dean Stanton reiste ich wieder nach Los Angeles, da er dort lebte. Der Blue-Note-Film wurde in Los Angeles und New York gedreht, die Postproduktion fand dann in der Schweiz statt. So bewege ich mich zwischen den drei Orten.
Zum Jazz gefunden haben Sie in den USA?
Nein, viel früher. Mein Vater hörte Jazz und hatte eine Plattensammlung. Zudem besuchten wir jeweils das Jazzfestival Bern.
Von Bern nach New York: Wie kamen Sie auf Blue Note Records?
Als ich ein Label für den Soundtrack meines Filmes über Harry Dean Stanton suchte, hat mich ein gemeinsamer Bekannter dem Blue-Note-Präsidenten Don Was vorgestellt. Was mochte die Atmosphäre im Stanton-Film und die Art, wie ich mit Musik umging. Wir blieben also in Kontakt, und so reifte irgendwann die Idee zum Blue-Note-Film.
In der Schweiz wundert man sich voller Stolz, wie eine Bernerin Zugang zu den Musik-Ikonen Hancock, Shorter oder Glasper fand …
Die Unterstützung von Blue Note Records war essenziell. Wir bekamen Kontakte vermittelt und hatten Zugang zu den Studio-Sessions. Als wir planten, eine Session mit jüngeren Blue-Note-Musikern zu filmen, sah ich, dass Herbie Hancock und Wayne Shorter zur gleichen Zeit in Los Angeles spielten. Also fragte ich Don Was, ob es möglich wäre, sie zur Session einzuladen. So entstand dieses Kernstück im Film.
Manche Ihrer Interviewpartner äussern sich mit Nachdruck zur vielfältigen Kraft von Musik. Soll Ihr Film, abgesehen vom dokumentarischen Aspekt, eine Botschaft vermitteln?
Mich berührte die Zusammenarbeit der deutsch-jüdischen Labelgründer mit den schwarzen Musikern und wie sie gemeinsam einen Ausdruck von Freiheit in dieser Musik fanden. Ihr Erbe wirkt bis heute nach und hat einen Einfluss bis in den Hip-Hop. In einer Zeit, da Fremdenhass und Rassismus gefährlich präsent sind, scheint es mir wichtig, jenen Stimmen einen Platz einzuräumen, die sich für menschliche Werte einsetzen.