Film - Mit den Schafen durch den Winter
Beeindruckende Bilder eines besonderen Arbeitslebens in «Hiver Nomade»: Der beste Schweizer Dokumentarfilm 2012 begleitet ein Schäferpaar bei seiner Wanderung durch die Westschweiz.
Inhalt
Kulturtipp 23/2012
Urs Hangartner
Der Schnee kommt früh. Pascal und Carole ziehen sich Pelerinen über; stapfen mit ihren Tieren durch den Schnee. Über Autobahnbrücken, Felder und Wiesen, auf langen Strassen, durch Dörfer. Sie übernachten draussen, im Feld oder in einer Waldlichtung. Als Lager dient ihnen eine Zeltplane – vier Monate lang im Winterhalbjahr. 600 Kilometer weit. Die Tiere, die mit ihnen ziehen: 800 Schafe, vier Hunde, drei Esel. Ziel des Unterfangens: Die Schafe tüchtig m...
Der Schnee kommt früh. Pascal und Carole ziehen sich Pelerinen über; stapfen mit ihren Tieren durch den Schnee. Über Autobahnbrücken, Felder und Wiesen, auf langen Strassen, durch Dörfer. Sie übernachten draussen, im Feld oder in einer Waldlichtung. Als Lager dient ihnen eine Zeltplane – vier Monate lang im Winterhalbjahr. 600 Kilometer weit. Die Tiere, die mit ihnen ziehen: 800 Schafe, vier Hunde, drei Esel. Ziel des Unterfangens: Die Schafe tüchtig mästen.
Die Transhumanz, die Wanderviehwirtschaft, wie die mobile Tierhaltung mit wechselnden Weidegebieten heisst, ist keine Sonntagsschule. Sie ist beschwerlich. Und es kommen Unwägbarkeiten dazu: Die Landschaft verändert sich von Jahr zu Jahr. Wege, die man früher beging, sind nicht mehr da, weil gebaut wurde. Also geht es für Mensch und Vieh an einer neuen Einfamilienhaussiedlung vorbei. Carole hat dafür nur ein Wort: «Disneyland.» Die Hausbesitzer sind neugierig und fotografieren. Es gibt Pralinen und Kaffee. Ein Wirt kommt ihnen entgegen, offeriert Rösti und Pizza.
33 Jahre unterwegs
Bei Bauern macht man wie jedes Jahr halt. Man duscht, hier stutzt Pascal seinen Bart, es gibt eine Mahlzeit im Warmen. Freunden verdankt man zur Weihnachtszeit ein Fondue, das sie gemeinsam am offenen Feuer essen. Als Carole im Coop von Payerne einkaufen geht, hört sie über Lautsprecher die Durchsage: «Sonderangebot – Lammfleisch aus Neuseeland.»
Pascal (54) stammt aus einer Industriellenfamilie und ist seit 33 Jahren Schäfer in der Schweiz. Die Bretonin Carole (28) ist als Schäferin seit sechs Jahren mit dabei. Sie hat nach dem Film den Beruf gewechselt. «Hiver Nomade» des Lausanner Regisseurs Manuel von Stürler spart die Spannungen nicht aus, die zwischen den beiden schon mal aufkommen. In der Regel aber ist ihr Verhältnis freundschaftlich. Anders ginge es wohl gar nicht.
Unterwegs begegnen Pascal und Carole auch Widerständen. Bauern wollen die Herde partout nicht durch ihr Land ziehen lassen («Ihr trampelt alles nieder»). Es bleibt nichts anderes übrig, als einen Umweg zu nehmen. Die Herde dezimiert sich nach und nach. Wiederholt kommt der Herdenbesitzer mit dem Anhänger vorbei und holt Schafe zum Schlachten. Vorher geprüfte und mit roter Farbe markierte Tiere werden aufgeladen.
Es ist ein Leben zwischen Schäferidylle und der Härte des Alltags. «Man ist immer draussen, wie ein Seemann», sagt Pascal. Die Schäferei als Passion und als vom Aussterben bedrohter Beruf, der auch besinnliche Momente kennt. Wie dann, wenn Pascal am Abend ein Dankesritual abhält: «Wir danken allem, was uns umgibt, dem Abwesenden, Abstrakten und Irrealen, das über uns wacht.»
«Hiver Nomade» wurde im April beim Festival «Visions du réel» als bester Schweizer Dokumentarfilm 2012 ausgezeichnet und ist für den Europäischen Filmpreis nominiert.