Es ist unklar, wohin genau die Reise geht. In dunkler Tropennacht ist Amparo mit ihren Kindern auf dem Amazonas unterwegs. Doch die Finsternis pulsiert von den Pfiffen, Schreien und Gesängen unsichtbarer Vögel, Amphibien und sonstigem Getier. Schliesslich winkt ein Licht, das Boot legt an, am Ufer wartet eine Alte und schliesst die Reisenden in die Arme.
Tags darauf erhellt sich das Geschehen: Amparo ist vor dem Bürgerkrieg in Kolumbien geflohen, die Alte ist ihre Tante, man ist in Sicherheit. Die Isla de la fantasia liegt mitten im Amazonas. «Wir gehören weder zu Kolumbien noch zu Brasilien oder Chile», sagt die Alte. Das Leben brodelt bunt, denn dieses Niemandsland ist Fluchtpunkt für Vertriebene von überall her.
Entsprechend schwierig ist es für Amparo, Arbeit zu finden. Ihre beiden Kinder schickt sie in die Schule, die Uniformen näht sie selbst, ihr fehlt das Geld.
Die Toten beginnen zu sprechen
Ein Anwalt bietet Hilfe an, Amparo habe Entschädigungen zugut für ihren Mann Adam und ihre Tochter, die in Kolumbien auf unklare Weise ums Leben kamen. Amparo nimmt die Hilfe an, wohl wissend, dass sie über den Tisch gezogen wird. Tatsächlich wird der Anwalt ein Mehrfaches des ihr angebotenen Betrages einstreichen können. Amparos Mann macht ihr Vorwürfe und warnt sie vor einer Weiterreise nach Brasilien: «Willst du ewig auf der Flucht sein?»
Richtig: Der getötete Ehemann Adam ist plötzlich anwesend, reinigt sein Guerilla-Gewehr, umarmt seine Tochter, hilft im Haushalt. Als im Fernsehen berichtet wird, die neue kolumbianische Regierung wolle mit den Farc-Rebellen Frieden schliessen, versammeln sich die Insel-Gestrandeten zur nächtlichen Konsultation. Mit dabei sind ihre Toten, die Stillen (Los Silencios), die für einmal aber sprechen dürfen. «Wir sind die Opfer dieses unnötigen und langen Bruderkrieges», sagt einer, der dann zu leuchten beginnt. Wie alle Toten in jener Nacht, auch Adam.
Beatriz Seigner (35), die mit «Bollywood Dream» 2010 einen internationalen Festival-Erfolg feierte, hat für ihren Film den Erzählstil des Magischen Realismus gewählt. Dieser zelebriert das Durchbrechen von dokumentarischem Realismus mit fantastischen Elementen. Sie bewegt sich damit in der Tradition lateinamerikanischer Filmemacher wie etwa des Argentiniers Fernando Solanas mit «El viaje» (1992). Wie dieser setzt auch Seigner auf die Kraft von Natur-Symbolik, indem sie etwa das Amazonas-Wasser ansteigen und die Flucht-Insel überschwemmen lässt. Auch Wind, Regen und Urwaldgeräusche platziert sie in gezielter Dramaturgie, um jene verdichtete Atmosphäre zu schaffen, die dem Film letztlich seine politische Aussage gibt. Die Insel-Kolonie nämlich setzt auf friedliches Zusammenleben und die Hoffnung auf Gerechtigkeit in Kolumbien und anderswo. Ihre Isla de la fantasia ist eine glückselige Zwischenwelt, wo die Lebenden und die Toten zur Ruhe kommen. Doch dieses Utopia wird im Strom der Zeit versinken.
Los Silencios
Regie: Beatriz Seigner
Ab Do, 18.7., im Kino