Die Landschaft ist wunderschön. So berückend die Natur anmutet, so bedrückend kann sie sich manifestieren. Diese Welt im Oberwallis um 1900 wird von gottesfürchtigen Menschen bewohnt, von Frommen, deren Leben rigide Moralvorstellungen prägen. So wie das Bergbauernpaar (Sabine Timoteo und François Revaclier). In diesem Sommer stirbt die älteste Tochter Innocente (Léa Gigon) unter mysteriösen Umständen. Jetzt fehlt eine Arbeitskraft. Die Eltern holen ihre Tochter Elisabeth ( Lilith Grasmug) aus dem Kloster. Fünf Jahre war sie hier Novizin, die 17-Jährige steht kurz vor ihrem Gelübde.
Seit ihrem Eintritt ins Kloster hat sie die Familie nicht mehr gesehen. Elisabeth kommt durch einen Zufallsfund dem Geheimnis ihrer verstorbenen Schwester auf die Spur: In einem Kleid eingenäht entdeckt sie Innocentes Tagebuch. Es enthält Bekenntnisse eines «ausschweifenden» Sexuallebens; sie berichtet in den Aufzeichnungen etwa davon, wie sie «mit M. das Unsagbare machte». Einer der Sätze, die Elisabeth liest, lautet: «Ich gebe mich hin, um die Welt zu vergessen.» Es sind Bekenntnisse aus einem Leben, das so nicht sein durfte.
Sinnliche Erfahrungen draussen in der Natur
Elisabeth interpretiert die Zeugnisse ihrer toten Schwester als eine Suche nach Gott, denn im Fleisch, nicht im Geist hatte sie zu ihm gefunden. Sie erwacht selbst, entdeckt eine Welt, die ihr bisher verborgen bleiben musste, eine Welt der Körperlichkeit und der Zärtlichkeit. Zusammen mit drei jungen Männern aus dem Dorf macht sie sinnliche Erfahrungen, draussen in der Natur.
Die Eltern und der Pfarrer wollen Elisabeths Drang nach Freude und Freiheit zügeln. Sie soll nicht des Teufels sein wie ihre ungehörige Schwester. Gelingt es Elisabeth, sich zu emanzipieren, sich von den Zwängen dieser engen Welt zu befreien?
Lilith Grasmug überzeugt in der Hauptrolle
Regisseurin Carmen Jaquier, 1985 in Genf geboren, hat mit «Foudre» ein beeindruckendes Langfilmdebüt gedreht. Darin beschäftigte sie sich mit der grundlegenden Frage: «Was, wenn Gott Lust wäre?» Könnte es nicht so sein, wie am tragischen Beispiel von Innocente gezeigt, dass Sexualität als Ausdruck der Liebe Gottes ver- standen werden darf? Gefilmt im Oberwalliser Binntal, wartet «Foudre» mit wunderschönen Bildern auf (Kamera: Marine Atlan), die mitunter an Gemälde von Giovanni Segantini erinnern.
Doch in diesem Schönen steckt ebenso das Hässliche und Bedrängende, wie es in diesem Drama um Liebe, Tod und Teufel von bigotten Menschen geschaffen wird. Als Befreiungs- und Emanzipationsgeschichte einer Frau wirkt «Foudre» historisch und modern, zeitlos und universell zugleich. Allen voran überzeugt dabei die österreichisch-französische Schauspielerin Lilith Gras- mug in ihrer ersten Hauptrolle mit der intensiven und sub- tilen Verkörperung von Elisabeth. «Foudre» wurde im Januar bei den Solothurner Filmtagen mit dem Opera-Prima-Preis als herausragendes Erstlingswerk ausgezeichnet.
Foudre
Regie: Carmen Jaquier
CH 2022, 92 Minuten
Ab Do, 13.4., im Kino