Ganz zum Schluss des Films spielt Igor Levit unter freiem Himmel. Es ist Dezember 2020. Der Starpianist gibt im Dannenröder Forst in Hessen ein Konzert für die Menschen, die in ihren Baumhäusern ausharren. Sie protestieren gegen die Rodung von 85 Hektar Wald, die einer Autobahn weichen müssen. Der Pianist hat bei seiner Solidaritätsaktion den ihm vertrauten Steinway-Flügel gegen ein simples Klavier getauscht. Igor Levit ist anderes gewohnt. Er wird weltweit in den grossen Konzertsälen gefeiert.
Doch er lässt es sich nicht nehmen, politisch Position zu beziehen, sich auf Instagram und bis vor kurzem auch auf Twitter zu Wort zu melden. Igor Levit, als Achtjähriger von Russland nach Deutschland gekommen, hat in seiner neuen Heimat unter anderem erfahren müssen, was Antisemitismus bedeutet.
Regisseurin Regina Schilling hat den Pianisten von Mai 2019 bis Ende 2020 begleitet. Sie kommt ihm dabei sehr nahe. Und es hat Platz für Komisches, wie in jener Anfangssequenz, in der ein neuer Flügel in seine Berliner Wohnung geliefert wird. Dazu tippt er in sein Smartphone: «Im nächsten Leben spiel ich Querflöte …»
Intensität, Innigkeit, Zweifel und Erschöpfung
Die Kamera zeigt, wie Levit spielt: in Proben, Konzerten und bei den Aufnahmen zum Mammutprojekt mit sämtlichen 32 Beethoven-Sonaten. Dabei verausgabt er sich, geht mit Intensität und Innigkeit ans Werk. Doch auch Zweifel, Erschöpfung, ja Deprimiertheit machen sich bei ihm breit. Igor Levit bekennt nach einem Konzert, dass er «eine bodenlose Verunsicherung» spürt. Einmal, im Taxi, antwortet er im Januar 2020 auf die Frage nach Vorsätzen: «Überstehen.»
Und ein andermal gesteht er offen: «Das ist einfach nicht mehr mein Leben. Ich fühle mich 15 Jahre älter und 20 Kilogramm schwerer.» Beim Schauen einer FernsehDokumentation über Keith Richards von den Rolling Stones macht Levit eine besondere Erfahrung. Richards habe in der Doku von einem Muddy Waters erzählt, ein Name, der Levit nichts sagte.
Im Song «Mannish Boy», interpretiert vom legendären Bluesmann, erkennt Levit einen Sound «wie eine Rasierklinge» – «Ich möchte einmal einen solchen Ton spielen.» Das sei schlicht «Wahnsinn». In die Filmzeit fällt auch der Corona-Lockdown. 180 Konzerte werden abgesagt. Dieser Situation begegnet der Pianist mit 52 «Hauskonzerten», die er mit dem Smartphone aufnimmt und als Livestreams überträgt.
Levit bleibt von Anfang bis Ende authentisch
Der Porträtierte bleibt vor der Kamera authentisch, er setzt sich seinem Filmpublikum in einer schonungslosen Offenheit aus. Das ist ein Künstlerfilm, wie man ihn selten zu sehen bekommt. Da und dort würde man sich einen Kommentar wünschen, damit sich gewisse Zusammenhänge besser erschliessen. Ansonsten aber überzeugt dieser Dok über einen Ausnahmekünstler
Igor Levit – No Fear
Regie: Regina Schilling D 2022, 118 Minuten
Ab Do, 8.6., im Kino