Er sei überaus kunstsinnig, so experimentierfreudig wie nostalgisch und ausserdem ein Vorreiter für die Rechte von Schwulen, Lesben und Transmenschen. Besonders in seinem Element ist Regisseur Todd Haynes jedoch, wenn er Filme über «verbotene» Liebschaften inklusive halsbrecherischer Manöver zu deren Vertuschung dreht. So war das in «Far from Heaven» (2002) oder in der Patricia-HighsmithAdaption «Carol» (2015) – die beiden Filme erhielten insgesamt zehn Oscar-Nominationen. Und so ist es nun auch in «May December».
All diesen Filmen gemein ist, dass sie ihre ausgeklügelte Ästhetik einem Arrangement von begehrenden Blicken und geschickt platzierten Spiegeln verdanken. Man könnte meinen, sich durch ein gläsernes Labyrinth zu bewegen, auch deshalb, weil diese Werke oft in früheren Zeiten spielen. Warum? «Weil ich gern in die Vergangenheit reise, um eine spezifische Ära zu studieren», sagt Haynes. «Aber auch, weil uns Filme aus der Vergangenheit mehr lehren als das, woran wir uns zu erinnern glauben.
Dass ich ein grosser DouglasSirk-Verehrer bin, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Aber ich könnte auch jeden Abend einen Hitchcock-Film schauen, um von ihm zu lernen.»
Schon der fünfte Film mit Julianne Moore
Neugierde – sie ist eine essenzielle Komponente in Haynes’ Werk, wobei seine Melodramen typischerweise überwiegend mit Frauen besetzt sind. «Auch das hat Tradition», sagt der 63-jährige US-Amerikaner.
«Schauen Sie nur mal in die 30er-Jahre, da waren Bette Davis, Joan Crawford oder Barbara Stanwyck Box-Office-Attraktionen, die jede Art von weiblichem Charakter spielen konnten – gute, schlechte, düstere, gescheite, korrupte oder mörderische Figuren.» Was Todd Haynes betrifft, so setzt er mit Vorliebe auf Julianne Moore, die er bereits 1995 für sein Psychodrama «Safe» entdeckt hatte. «Entdeckt? Das ist ein grosses Wort», meint der Regisseur. Moore habe ja damals schon in Robert Altmans Ensemblefilm «Short Cuts» für Aufsehen gesorgt.
Stimmt. Aber die erste grosse Hauptrolle gab ihr dann doch Todd Haynes. Was sieht der 63-Jährige in ihr, dass er sie nun bereits zum fünften Mal besetzt? «Wie ich selbst, so liebt auch Julianne Moore Geschichten über Men - schen, die nicht genau wissen, wie sie in Konfliktsituationen reagieren sollen beziehungswei - se wie sie ihr Leben verändern könnten. In ‹Safe› spielt sie eine Frau, deren Körper laufend Signale aussendet, dass etwas falsch läuft.
Das wirft mehr Fragen auf, als es Antworten darauf gibt. Vor allem aber ist es sel - ten, dass eine Schauspielerin nicht nur willens ist, sich in unwägbares Territorium vorzu - wagen, sondern das geradezu verlangt.»
Filme, die einen aus dem Gleichgewicht bringen
Nun also «May December». Der Titel ist eine Anspielung auf den beträchtlichen Altersunterschied zwischen Gracie (Julianne Moore) und ihrem Mann Joe (Charles Melton). Als fragil entpuppt sich diese Konstellation, als die Schauspielerin Elizabeth (Natalie Portman) dazustösst, um das Leben von Gracie im Hinblick auf eine anstehende Verfilmung zu studieren.
Da kommen sich die beiden Frauen beim Backen oder beim Make-up-Auftragen vor dem Spiegel manchmal so nahe, dass man als Zuschauer ihren Atem zu spüren glaubt. «Was ich an diesem Stoff besonders mag, ist das Gefühl der Unsicherheit», erklärt der Regisseur. «Es erinnert mich an Filme aus den 60er- und 70er-Jahren, die einen komplett aus dem Gleichgewicht bringen konnten.»
Um diese Stimmung zu erzeugen, setzt Haynes auf wiederkehrende irritierende Pianoklänge. «Die Musik soll dem Zuschauer sagen: Pass auf, sei bereit! Wir werden Spass haben, aber ich werde dir nicht sagen, was du zu denken hast.» Musik ist für Haynes ein zentrales Element. So drehte er unter anderem eine Experimentalbiografie über Bob Dylan und eine Doku über Velvet Underground. Sein Fokus zeigt sich auch daran, dass er das Pianothema bereits während der Dreharbeiten einsetzte.
«Ich liess diese Musik immer wieder abspielen, damit wir sie ganz verinnerlichen konnten. Sie entpuppte sich dann als eigentliche DNA dieses Films.»
May
December Regie: Todd Haynes, USA 2023,
117 Minuten, ab Do, 22.2., im Kino
Vertracktes Psychodrama
Als die 36-jährige Gracie (Julianne Moore) 1992 beim Sex mit dem 13-jährigen Joe (Charles Melton) erwischt wird, gehen in Savannah, Georgia, die Wogen hoch. 23 Jahre später erhält das nun verheiratete Paar mit drei Kindern immer noch in Karton verpackte Exkremente.
Aus Anlass einer Verfilmung der Skandalstory reist Hauptdarstellerin Elizabeth (Natalie Portman) nach Savannah, um die «Wahrheit» über Gracie herauszufinden. Oder pflegt sie bloss ihre eigenen Obsessionen, wenn sie im Lager einer Tierhandlung den Sex zwischen Joe und Gracie alleine nachstellt?
«May December» ist in seiner Uneindeutigkeit ein wunderbar vertracktes Psychodrama, vor allem dann, wenn sich die weiblichen Hauptfiguren punkto Belauern gegenseitig überbieten.
Moore und Portman holen aus dem oscarnominierten Drehbuch von Samy Burch und Alex Mechanik alles raus. Und immer, wenn man glaubt, die Faktenlage einigermassen zu überblicken, kommt Regisseur Todd Haynes mit einer neuen Überraschung um die Ecke.