Hoch droben im urnerischen Isental: Anna (Michèle Brand), die alleine eine Tochter aufzieht, hilft ihrer Mutter in der Dorfbeiz und trägt die Post aus. Neu im Dorf ist Marco (Simon Wisler), ein Auswärtiger, der nicht mit den anderen Bier trinkt, sondern Eistee vorzieht. Er komme vom «Flachland», meint einer am Stammtisch. Marco-Darsteller Simon Wisler ist übrigens wie alle im Film ein schauspielerischer Laie – und im richtigen Leben Bergbauer. Ein Mann mit Schwingerpostur, im Film etwas maulfaul, aber gutmütig und arbeitsam.
Kleine, feine Gesten statt grosser Worte
«Wer mich will, muss auch meine Tochter wollen.» Die Ansage von Anna ist klar. Marco will. Auf einer Motorradtour können sie ihr gemeinsames Glück nicht wirklich wahrhaben – «Was ist, wenn wir das alles nur träumen? » Die beiden heiraten. Eines Tages verunfallt Marco mit dem Motorrad. Gebrochen ist nichts, aber die ärztliche Untersuchung bringt etwas anderes an den Tag: einen Tumor im Kopf über dem rechten Auge, sechs mal drei Zentimeter gross. Der Grund für Marcos Klagen, als er noch nicht wusste, was ihn da plagt: «Das verdammte huere Chopfweh immer!» Durch den Tumor droht ihm der Verlust der Impulskontrolle. Wiederholt verhält er sich seltsam. Sein Zustand verschlimmert sich, bis zum bitteren Ende. Doch Anna hält zu ihm: «Er ist krank. Er ist kein schlechter Mensch.» «Drii Winter» nimmt sich Zeit bei einer Filmdauer von zweieinviertel Stunden, baut in einem ruhigen Ton auf feine und kleine Gesten, nicht auf viele Worte. Das Erzähltempo ist bedächtig in langen Einstellungen. Das Bildformat 4:3 ist nicht breit wie heute üblich, betont damit das Vertikale der Berg- welt und lässt in Grossaufnahmen Figuren näher zueinander rücken. Als eine Art Verfremdungseffekt wirkt das Vokalensemble «Der Chor Luzern» mit. Wie in der griechischen Tragödie übernimmt es eine Erzählerfunktion, kommentiert das Geschehen und gliedert den Film in Kapitel oder Akte.
Filmvorschlag für die Oscars
Zu diesem eigenständigen Gestaltungswillen der Stilisierungen kommt das Dokumentarische: Die Lebenswirklichkeit der Menschen wird authentisch eingefangen. Gezeigt wird, wie sie Zäune spannen, eine Weide entsteinen, den Stier zur Kuh führen, ein Tier schlachten, mit der Sense am steilen Hang mähen und das Gras via Heubähnli ins Tal befördern. Als Gesamtes zeigt sich «Drii Winter» als meisterliches Leinwandwerk, als Heimatfilm der unkitschigen Art – und als «langsamster» Schweizer Film überhaupt. Bei der diesjährigen Berlinale im Februar lief «Drii Winter» im Wettbewerb. Der zweite Film von Regisseur Michael Koch erhielt eine besondere Erwähnung. «Der Chor Luzern» wurde für seine magisch wirkende und eindringliche Leistung mit dem Becce-Award für die beste Musik ausgezeichnet. Das Bundesamt für Kultur hat «Drii Winter» bereits für den Oscar in der Kategorie bester internationaler Film vorgeschlagen. Ob er definitiv ins Rennen gehen kann, entscheidet sich im Dezember.
Drii Winter
Regie: Michael Koch
CH 2022, 136 Minuten
Ab Do, 1.9., im Kino