Nach dem Tod der Grossmutter fährt die achtjährige Nelly mit ihrer Mutter Marion (Nina Meurisse) und dem Vater aufs Land zu Marions Elternhaus. Es soll geräumt werden. Doch eines Tages ist Marion weg. Warum sie gegangen ist, und wann sie wiederkommt, weiss keiner.
Hinter dem Haus führt ein Weg in den Wald. Dort, bei einer Spielhütte, trifft Nelly auf ein Mädchen, das ihr frappant ähnlich sieht. Sie heisst Marion, wie ihre Mutter, und lädt sie zu sich ein. Ihr Haus scheint identisch mit demjenigen der Grossmutter. Es stammt aber aus einer anderen Zeit.
Die Mädchen werden Freundinnen, spielen Krimitheater miteinander oder versuchen, eine Crêpe zu backen. Nelly eröffnet Marion ihr Geheimnis: «Ich bin dein Kind, deine Tochter.» Marion: «Kommst du aus der Zukunft?» Nelly: «Ich komme vom Weg hinter dir.» Eine letzte gemeinsame Sache wollen die Kinder unternehmen, bevor Nelly wieder fortgeht. Sie bringen ein Gummiboot zum künstlichen See eines Freizeitparks und rudern ins Innere einer Pyramide.
Es ist eine vertrackte, letztlich unauflösliche Logik, die hier herrscht. So wie es in Zeitreisen geschieht, wenn die Chronologie und der Raum durcheinandergeraten auf eigentlich unmögliche Art.
Tiefgründige Themen wie Liebe, Tod, Verlust
In diesem poetischen Verwirrspiel ging es der Filmemacherin Céline Sciamma («Portrait de la jeune fille en feu») nicht um Zukunfts- und Vergangenheitsfragen, sondern um eine gemeinsame gegenwärtige Zeit zwischen sich liebenden Menschen. Beim Schreiben des Films habe sie sich gefragt: «Wenn ich meine Mutter als Kind treffe, ist sie dann meine Mutter? Ist sie meine Schwester? Ist sie meine Freundin? Ist sie all das gleichzeitig?» Das, was kompliziert klingt, ist für Céline Sciamma eine einfache Grundidee, die sie in ihrem bezaubernden Film realisiert hat: «die Begegnung und Freundschaft zwischen einem Mädchen und seiner Mutter als Kind». Das gibt Spielraum für tiefgründige Themen wie Liebe, Tod, Verlust, Angst.
Verzicht auf jeglichen Schnickschnack
Die Bilder des Films mit seinen fantastischen Begegnungen bleiben in ruhigen, realistischen Bahnen. Céline Sciamma verzichtet auf Schnickschnack mit visuellen Effekten. Allein aus dem Spiel heraus entwickelt sich dieser träumerische, magische Film über Zeiten, Räume und Identitäten.
Das Haus, das doppelt vorkommt, wurde im Studio gebaut. Den Wald als Drehort fand Sciamma vor der Stadt Cergy nahe Paris, wo sie aufgewachsen ist. Ein Glücksfall stellt die Besetzung der Kinderrollen dar. Mit den Zwillingen Joséphine und Gabrielle Sanz hat die Filmemacherin zwei talentierte Mädchen gefunden. die toll zusammenspielen und ihre Aufgabe bravourös gemeistert haben.
Petite maman
Regie: Céline Sciamma
F 2021, 72 Minuten
Ab Do, 4.11., im Kino