In den verwinkelten Gassen von Casablanca geht eine junge Frau von Tür zu Tür. Ihr Blick ist müde, ihre Augen sind traurig. Sie findet nur Ablehnung, wenn sie – «ich bin auf der Durchreise» – ihre Dienste anbietet als Coiffeuse oder Haushalthilfe. Man sieht erst nicht, dass sie hochschwanger ist.
Die Frau bleibt erfolglos in ihrem Bemühen. Schliesslich setzt sie sich auf die Treppe eines Hauseingangs. Gegenüber beobachtet eine andere Frau die Schwangere. Sie erbarmt sich ihrer. Zwei, drei Tage könne sie bleiben, «dann gehst du heim oder findest den, der dich geschwängert hat». Und: «Ich will nicht mehr wissen, weder über dich noch über dein Leben.» Was sich herausstellt: Samia (Nisrin Erradi) ist der Name der Schwangeren, sie stammt aus einem Dorf und wurde vom Kindsvater verlassen.
«Es ist ein Kind der Sünde»
Die Gastgeberin heisst Abla (Lubna Azabal): Eine verhärtet und verhärmt wirkende Witwe, die zusammen mit der aufgestellten achtjährigen Tochter Warda lebt – Warda, wie die berühmte Sängerin Warda Al-Jazairia, deren Musik ab Kassette Abla seit dem Unfalltod ihres Mannes nicht mehr hören will. Die kleine Warda hat die Fremde offenbar ins Herz geschlossen.
Samia macht sich nützlich in der kleinen Bäckerei von Abla, die ihre Produkte an einer Fenstertheke verkauft. Samia kann gar die besseren Rziza backen, jene marokkanische Crèpe-artige Spezialität, und sie zeigt Abla, wie man den Teig vorteilhaft knetet. Das Gebäck entwickelt sich im Quartier zu einem kleinen Verkaufshit.
Samia darf mehr als nur die wenigen Tage bleiben. Abla taut langsam auf. Sie entscheidet: «Das Kind soll nicht auf der Strasse geboren werden. Du bekommst es hier bei uns. Danach kannst du gehen.» Danach heisst: nach der Adoption. Denn Samia ist fest dazu entschlossen, das Kind wegzugeben.
Sie befindet sich in einem regelrechten Dilemma: «Das Kind ist mit mir verdammt. Und ohne mich weiss ich nicht, wie es ihm ergehen wird.» So oder so: «Es ist ein Kind der Sünde.» Die Adoption würde immerhin gewähren, dass es nicht als Bastard aufwächst («das will ich ihm nicht antun»). Wie wird Samia sich entscheiden, nachdem sie nach der Geburt ihres Kindes, das sie Adam tauft, eines Nachts heimlich das Haus verlässt?
Geschichte von Solidarität Freundschaft und Moral
Die marokkanische Regisseurin Maryam Touzani berichtet in ihrem stillen, weitgehend kammerspielartigen Langfilmdebüt von unterschiedlichen Frauen. Doch beide sind sie gefangen: in Trauer die eine, in Scham die andere. Die eine mit dem Tod eines lieben Menschen konfrontiert, worüber sie lange nicht hinwegzukommen scheint, die andere stur angesichts des Lebens, das sie mit der Geburt des Kindes spenden wird, ohne Mutter bleiben zu wollen. Es ist eine berührende Geschichte von Moral, Freundschaft und Solidarität. Als ersten Film einer Frau schickt Marokko Maryam Touzanis «Adam» ins Rennen für den Ausland-Oscar 2020.
Adam
Regie: Maryam Touzani
Ab Do, 19.12., im Kino