Film: Eine Welt muss weichen
Vom Untergang einer landwirtschaftlichen Existenz im katalanischen Hinterland erzählt Regisseurin Carla Simón in ihrem ausgezeichneten zweiten Film «Alcarràs».
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Kulturtipp 20/2022
Urs Hangartner
Für ihr gefeiertes Spielfilmdebüt «Summer 1993» (2017) schöpfte die 1986 geborene spanische Regisseurin Carla Simón aus eigenen Kindheitserinnerungen. Sie verlor früh ihre Eltern, so wie im Film die sechsjährige Waise, die von Barcelona aufs Land zu Onkel und Tante kommt. War es damals eine kleine Besetzung, so ist es im neuen Film ein grosses Ensemble: drei Generationen der Familie Solé. Fast alle leben in der Gemeinde Alcarràs zusamm...
Für ihr gefeiertes Spielfilmdebüt «Summer 1993» (2017) schöpfte die 1986 geborene spanische Regisseurin Carla Simón aus eigenen Kindheitserinnerungen. Sie verlor früh ihre Eltern, so wie im Film die sechsjährige Waise, die von Barcelona aufs Land zu Onkel und Tante kommt. War es damals eine kleine Besetzung, so ist es im neuen Film ein grosses Ensemble: drei Generationen der Familie Solé. Fast alle leben in der Gemeinde Alcarràs zusammen unter einem Dach, in einem Haus, das mitten in einer Pfirsichplantage liegt. Auch hier bezieht sich Carla Simón auf eigenes Erleben: Ihr Grossvater bewirtschaftete eine Pfirsichplantage im katalanischen Hinterland. Der Betrieb wurde von Simóns Onkel und Tante weitergeführt. «Die wichtigste Inspirationsquelle für mich ist meine Familie, das ist ein unendlich tiefer Brunnen voller Geschichten», sagt Regisseurin Simón. Die Mitglieder der Familie werden alle von Laien gespielt, denen die Arbeit und die Lebenswelt des Films vertraut sind und die den regionalen katalanischen Dialekt sprechen.
Die Tage der Plantage sind gezählt
Für die Kinder ist es ein idyllisches Paradies. Die kleine Iris und ihre Zwillingscousins Pau und Pere stellen sich einen ausrangierten «Döschwo» als Rakete vor, um «Astronauten» zu spielen. Bald wird das Autowrack verschwinden. So wie es mit der Lebensgrundlage der ganzen Familie bald ein Ende nimmt. Denn die Tage der Plantage sind gezählt. Was Jahrzehnte gültig war, muss verschwinden. Früher wurde ein Vertrag noch mündlich und per Handschlag abgeschlossen. Der alte Pinyol hatte einst dem Grossvater Solé das Land zur Bewirtschaftung überlassen. Jetzt müssten sie einen schriftlichen Vertrag vorlegen, um bleiben zu können. Doch ein Papier ist keines da. Nach dem Sommer verlieren sie ihr Land. Alle helfen noch einmal bei der allerletzten Ernte. Den jungen Pinyol können sie nicht umstimmen. Es ist alles längst geregelt: Die Plantage muss einem Solarpark Platz machen. Pinyol bietet den Solés an: «Eure Männer können die Solarpanels warten.» Nein danke.
Unabwendbares Schicksal einer Familie
Doch noch halten die Solés die Lebensfreude hoch. Alle versammeln sich zum fröhlichen Familienfest samt Poolplausch. Teenager Mariona übt die Choreo- grafie für einen Playbackauftritt, am karnevalesken Dorffest gewinnt Vater Quimet gar das Wettsaufen. «Manchmal bewegt sich die Familie als einziger emotionaler Organismus», sagt die Regisseurin Simón. Das zeigt sie in ihrem Film, dem es nicht nur um die Frage geht, was Landwirtschaft heute ist. Es geht um Menschen vor einem grossen Verlust, vor einer ungewissen Zukunft. Dass das Schicksal für die Solés besiegelt ist, wird im Schlussbild deutlich: Das Haus steht noch, aber auf der Plantage vollzieht ein Bagger sein unabwendba- res zerstörerisches Werk. Alle Bäume werden gefällt. Für ihren erneut starken, zweiten Spielfilm hat Carla Simón an der Berlinale verdient den Goldenen Bären erhalten.
Alcarràs
Regie: Carla Simón
ESP/I 2022, 120 Minuten
Ab Do, 29.9., im Kino