Die flammende Verteidigungsrede der Jugendheim-Leiterin Lora gehört zu den eindrücklichsten Szenen des Films: Sie sitzt bei einer Anhörung vor dem Stiftungsrat, weil eine knapp 17-Jährige im Heim beim Sex mit einem 14-Jährigen erwischt wurde. «Der Ruf der Stiftung steht auf dem Spiel», wird Lora unter anderem vorgeworfen. Sie selbst hört sich die Anschuldigungen ruhig an und sagt dann: «Ein Heim ist kein Gefängnis, diese Kinder sind nicht eingesperrt, sie sind nicht bestraft. Sie sind dort, damit man sie begleitet, sie weiter erzieht, auch in der Sexualität. Die Sexualität unter Jugendlichen bringt Erwachsene in Aufruhr. Was es da zu reden gibt. Die Presse liebt das. Aber die Sexualität ist kein Verbrechen. Man muss sie lernen. Das ist ein Recht.»
Das Heim soll ein sicherer Ort sein
Claudia Grob, die im Film «La Mif» so überzeugend Lora spielt, kann auf keine Schauspiel-Erfahrung zurückgreifen. Vielmehr hat sie ihr Leben lang Kinder und Jugendliche begleitet: zuerst als Erzieherin, dann als Heimleiterin und später als Direktorin von mehreren Westschweizer Heimen. Ihr leidenschaftliches Engagement und ihr unbedingter Wille, ihren Schützlingen im Heim einen sicheren Ort zu bieten, sind auch im Videotelefon-Gespräch mit dem kulturtipp aus ihrem Wohnort Genf spürbar. Geprägt hat sie eine Erfahrung aus der Kindheit. Aufgewachsen in einem St. Galler Dorf, hat sie damals mitgekriegt, wie roh die Nachbarn auf dem Bauernhof mit den Verdingkindern umgingen. Schon damals war für Claudia Grob klar: «Diese Kinder müssen so behandelt werden, wie man mich selbst behandelt.» Bei ihrer späteren Arbeit in den Heimen war ihr wichtigstes Credo, dass man «die Kinder gern hat, sie schützt und begleitet».
In den Film fliessen zahlreiche Situationen und Konflikte ein, welche die inzwischen pensionierte Heimleiterin in ihrem Berufsleben auf ähnliche Weise erlebt hat. Nur die private Krisensituation ihrer Figur Lora ist erfunden.
Claudia Grob schwärmt von der Zusammenarbeit mit dem Genfer Regisseur Fred Baillif, der vor mehr als 20 Jahren ihr Praktikant in der Sozialarbeit war und später als Autodidakt preisgekrönte Dokumentarfilme schuf. Für den Spielfilm «La Mif» wendet Baillif seine eigene Regie-Methode für Laienschauspieler an. Diese stützt sich auf reale Menschen und Improvisation: Gedreht wurde in einem Genfer Jugendheim, die Schauspielerinnen sind echte Heimbewohnerinnen und Erzieher – ihre Lebensgeschichten fliessen in den Film ein. Nach zahlreichen Workshops während zweier Jahre hatten sich die Figuren herauskristallisiert. Fred Baillif entwickelte daraus die Handlung des Films, die Dialoge überliess er seinen Darstellerinnen. «Fred sagte uns immer: Spielt nicht. Redet so, wie ihr immer redet», erzählt Grob. «Er schuf beim Dreh die passende Atmosphäre, machte nur wenige Vorgaben, sodass wir keine Emotionen vortäuschen mussten und alles natürlich rüberkam.» In seltenen Fällen legte sie ihr Veto ein, wenn sie fand, dass eine Szene gar nicht dem echten Heimleben entsprach. Etwa als sie als Leiterin Lora mit den Mädchen abhaut – und dazu Haschisch mitbringen sollte: «Nicht mal im Traum!», war ihre klare Antwort.
Raum für die Schicksale der Mädchen
Die meisten Mädchen aus dem Film kannte sie bereits aus Heimen. «Nach all den Jahren als Erzieherin war es ein tolles Erlebnis, plötzlich zusammen mit den Jugendlichen vor der Kamera zu stehen, sich gegenseitig zu ermutigen», sagt sie. Dass sie überhaupt den Mut zu diesem Rollenwechsel hatte, führt sie auf ihr Lebensmotto zurück: «Lass dich immer ein bisschen stören vom Leben – wage dich heraus!»
Durch die spezielle Herangehensweise, die Nahaufnahmen und die längeren Filmeinstellungen, die den Schicksalen der Mädchen Zeit lassen, ist ein intensiver, dichter und menschlicher Film entstanden, der manchmal nahe am Dokfilm ist. Er überzeugt durch die natürliche Darstellung und benennt einige Probleme im Jugendschutzsystem. «Allerdings ohne anzuklagen», betont Claudia Grob. Sie selber habe mit ihrer eigenen Stiftung gute Erfahrungen gemacht. Zuweilen habe sie aber mit Entscheidungen der Kindesschutzbehörde, mit Ämtern, Politikern oder mit Vorurteilen über Heimkinder gehadert.
Im Film setzen sich die Geschichten der Jugendlichen, die oft Gewalt oder sexuellen Missbrauch erlebt haben, Puzzleteil um Puzzleteil zusammen. In Zeitsprüngen und in wiederkehrenden Szenen rückt jeweils ein anderes Mädchen in den Fokus. Für viele von ihnen ist das Heim tatsächlich eine Zuflucht. «Ihr seid meine Familie» – dieser Satz fällt ein paarmal im Film. Daraus leitet sich auch der Titel ab: «La Mif» bedeutet «Familie» in der Jugendsprache Verlan.
Die überraschende Auszeichnung
Inzwischen wurde «La Mif» bereits an zahlreichen Festivals mit Preisen ausgezeichnet – etwa an der Berlinale und am Zurich Film Festival. Auch für den Schweizer Filmpreis, der am 25. März vergeben wird, ist er mehrfach nominiert. Unter anderem ist Claudia Grob als beste Darstellerin nominiert. «Ich bin total erschrocken und war sprachlos, als ich das hörte», lacht die Genferin. «Ich dachte, das ist fast ein bisschen zu viel. Ich bin ja keine Schauspielerin wie die beiden anderen Nominierten Ella Rumpf und Marie Leuenberger, die ich sehr schätze!» Inzwischen könne sie aber stolz darauf sein, wenn die Zuschauer ihr sagten, wie berührend sie den Film fanden. Und was sie ebenso stolz macht: dass der Film wichtige Themen aufgreift, die in der Sozialarbeit höchst aktuell sind.
La Mif
Regie: Fred Baillif
CH 2021, 112 Minuten
Ab Do, 17.3., im Kino